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: Phänomen Futebol

Alex Bellos reist durch ganz Brasilien, fliegt auf die Färöer Inseln spielt Schlammfußball – alles wegen einer eigentlich harmlosen Ballsportart

Schon mal von der „Generation 1982“ gehört? 1982 war das Jahr, als in Polen Lech Walesa hinter Gittern landete, García Márquez den Literaturnobelpreis erhielt und sich Deutschland und Österreich bei der Fußball-WM in Spanien im letzten Vorrundenspiel lustlos 1:0 trennten, was nach Absprache roch, weil nur mit diesem Ergebnis beide Teams weiterkommen konnten. „Generation 1982“ bezieht sich aber nicht auf dieses Skandalspiel in Gijón, sondern meint all jene, die von der fantastischen Seleção Brasiliens um das Mittelfeldtrio Zico, Falcão und Sócrates dermaßen verzaubert wurden, dass das ihr Leben veränderte. Und das, obwohl die Brasilianer am Ende unglücklich mit 2:3 gegen die Italiener ausschieden.

Der englische Journalist Alex Bellos muss zweifellos zur „Generation 1982“ gezählt werden. Er war damals 12 Jahre alt und traute seinen Augen nicht, als er bei den Brasilianern einen schlaksigen Spieler sah, der so überhaupt nicht seinen Vorstellungen von einem mustergültigen Fußballprofi entsprach: Mit dünnen Beinen, schmalen Schultern und einem mächtigen Vollbart stolzierte er elegant über den Platz. „Ich wusste zwar, dass es einen griechischen Philosophen mit dem Namen Socrates gab, von einem Fußballer gleichen Namens hatte ich aber noch nie gehört.“ Ohne es ahnen zu können, erlebte Bellos einen Wendepunkt in der Entwicklung des Fußballs. Denn das Ausscheiden in Spanien bedeutete zugleich das Ende des klassischen brasilianischen „futebol arte“. Brasilien ist ein Land mit einem langsamen und spielerischen Rhythmus“, sagt der Anthropologe José Paulo Florenzano aus São Paulo. „Genau das ist der Rhythmus des brasilianischen Kunstfußballs, ohne viel zu rennen – das ist europäischer Fußball. Doch mittlerweile rennt man auch im brasilianischen Fußball viel.“ Ronaldo ist im gewissen Sinn der Prototyp dieses „europäisierten“ brasilianischen Fußballs.

Wie auch immer: 1982, als Ronaldo gerade eingeschult wurde, ist jedenfalls ein schöner Ausgangspunkt, um sich mit dem brasilianischen Fußball auseinander zusetzen. Alex Bellos kam 16 Jahre später als Korrespondent für den Guardian und den Observer nach Rio de Janeiro. Vier Jahre lang recherchierte er für das Buch „Futebol. Die brasilianische Kunst des Lebens“, das gerade in deutscher Übersetzung erschienen ist. Um es vorwegzunehmen: Es ist ein ebenso informatives wie unterhaltsames Buch, dessen 15 Kapitel im Reportagestil um die Frage kreisen. „Wie war es möglich, dass so etwas offensichtlich Harmloses wie ein Ballspiel ein bestimmender Faktor bei der Einigung des fünftgrößten Landes der Erde werden konnte?“

Bellos bereiste dafür nicht nur das ganze Land und sprach mit Spielern, Clubbossen, Schiedsrichtern, Talentsuchern, Journalisten und Historikern ebenso wie mit Priestern, Transvestiten, Richtern, Indianern und Schönheitsköniginnen; er machte auch einen Abstecher zu den Färöer Inseln, um den dortigen brasilianischen Topscorer zu interviewen, beobachtete den parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Korruption im Fußball sowie „Autoball“-Spiele, bei dem zwei motorisierte Teams um einen 1,2 Meter großen Lederball kämpfen, nahm bei Ebbe im Amazonas selbst an so genannten „Futelama“-Spielen im Schlamm teil und besuchte das legendäre Stadion von Amapá, das vom Äquator in zwei Hälften geteilt wird: „Wenn der Schiedsrichter die Münze wirft, fragt er die Mannschaftskapitäne: Auf welcher Hemisphäre möchten sie beginnen?“ Und im Kapitel über die Spitznamen, die in Brasilien jedem Spieler, ob Star oder nicht, gegeben werden, amüsiert sich Bellos: „Stellen Sie sich vor, dass Sie gegen eine Mannschaft antreten, deren Spieler folgende Namen tragen: Picolé, Ventilador, Solteiro, Fumanchu, Ferrugem, Gordo, Astronauta, Portuarió, Gago, Geado und Santo Christo.“ (Lutscher, Ventilator, Junggeselle, Fu Manchu, Rost, Fettsack, Astronaut, Docker, Stotterer, Frost und Heiliger Christus).

Einen, den die Brasilianer mit liebevollen Respekt „O Doutor“, Doktor, rufen, trifft Bellos schließlich auch noch: seinen Jugendhelden Sócrates. Für Bellos verkörpert der Mittelfeldstratege wie kein Zweiter das platonische Ideal des Ballspiels. „Die brasilianische Kultur – die Mischung der Rassen, unsere Art die Welt und das Leben zu sehen – ist womöglich unser größter Reichtum“, sagt Sócrates am Ende des Buchs. „Schon wahr, das Land ist eine große Desasterzone, aber hier ist auch die Essenz der Menschheit. Wenn die Menschen sich zu viel organisieren, verlieren sie ihre elementaren Eigenschaften, ihre Instinkte, ihre Freuden.“

OLE SCHULZ

Alex Bellos: „Futebol. Die brasilianische Kunst des Lebens“. Edition Tiamat, Berlin, 398 Seiten