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Archiv-Artikel

2. OKTOBER 1990 Das Ende der deutschen Hysterie

Gegenüber „universalistischen“ Orientierungen, die vor allem die Linke für sich in Anspruch nimmt, sind Zweifel angebracht. Oft entspringt diese Haltung einer Fluchtbewegung vor den nächstliegenden Aufgaben. Wieviele der sich fortschrittlich dünkenden EinwohnerInnen Westberlins haben es in der Vergangenheit für erforderlich gehalten, sich den Nöten der ostmitteleuropäischen Länder zuzuwenden? War es nicht so, daß viele von uns gerade in Westberlin sich mit den Vorteilen einer Lage zufriedengaben, die auf der anderen Seite der Mauer Not und Verzweiflung produzierte?

KOMMENTARVON CHRISTIAN SEMLER

Es war diese Haltung, die in der Bewertung der demokratischen Revolutionen und Umbrüche in Ostmitteleuropa und der DDR zu schwerwiegenden Fehleinschätzungen führte. Als im Oktober und November letzten Jahres die Menschen in der DDR mit der Parole „Wir sind das Volk“ demokratisches Selbstbewußtsein unter Beweis stellten, beeilten sich viele Liebhaber der „civil society“, in diesen Manifestationen die Keimform einer neuen demokratischen Integration jenseits der bestehenden Systeme zu sehen. War die Bewegung in der DDR doch strikt gewaltlos, voll Kreativität und funktionierte ohne charismatische Führer. Der Feier des Widerstands stand die Abwertung der ÜbersiedlerInnen gegenüber: Sie hätten dem Konsum die harte Arbeit für ein solidarisches und freies Gemeinwesen geopfert.

 Diese verächtliche Haltung unterschlug, daß diejenigen, die die DDR verließen, eine legitime, rationale Entscheidung trafen, daß sie für sich und ihre Kinder nicht nur die D-Mark, sondern auch eine alternative Lebensplanung in Anspruch nahmen, mochte diese auch von illusionären Annahmen ausgehen. Als „Wir sind ein Volk“ und das Votum für die schnelle Herstellung der deutschen Einheit obsiegten, war die Reaktion auf unserer Seite zuerst Trauer, dann Verachtung, schließlich Sprachlosigkeit gegenüber dem rasenden Zug zur deutschen Einheit.

 Es wird Zeit, mit all dem Schluß zu machen. Die Deutschen haben jetzt die Gelegenheit, nüchtern ihre Stellung im europäischen Einigungsprozess gegenüber ihren östlichen Nachbarn und gegenüber der Weltgesellschaft zu bestimmen. Kein Hinweis auf die eingeschränkte Souveränität kann ihnen mehr zur Hilfe kommen. Sie müssen entscheiden, ob sie den Völkern Osteuropas und der Sowjetunion wirklich die Hand reichen wollen, wie man von ihnen erhofft und erwartet. Sie müssen entscheiden, ob sie im Innern einen Sozialvertrag wollen, der den Bedürfnissen der Bevölkerung in der ehemaligen DDR Rechnung trägt. Denn die erklärten wie unerklärten Abreden des bundesdeutschen Sozialstaats gelten nicht mehr. Sie müssen entscheiden, ob sie eine Gesellschaft wollen, die neue Formen des Klassenkampfes und des Konflikts ausgleicht. All dies muß in öffentlicher Aussprache geschehen. Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit der Einmischung in die eigenen Angelegenheiten gekommen?