: Hinter der Fassade stinkt es nach Schnaps
Als Marlene Suhr wegen ihrer saufenden Mutter das Gas in der Küche aufdreht, ist sie 15 Jahre alt. Als Gabriele Strehlitz dem alkoholkranken Vater seine Vergewaltigungen vorhält, antwortet er: „Du spinnst.“ Alkohol zerstört nicht nur Leben der Trinker, sondern auch die der Angehörigen. Zwei Biografien
von RUDI NOVOTNY
Marlene ahnt, was passiert, wenn sie aus dem Bett steigt. Aber sie hat keine Wahl. Welche Wahl sollte ein kleines Mädchen auch haben, wenn es mitten in der Nacht auf das Klo muss. Und die Mutter ist saufen. Langsam lässt sie den Körper in die Dunkelheit gleiten Der Fußboden ist hart und kalt. Er wird heute Nacht ihr Bett sein. Sie ist zu klein, um alleine wieder ins Warme zu krabbeln. Sie wird sich zum Schlafen an die Wand lehnen. Sie hat gelernt, so zu schlafen. Man kann viel lernen in anderthalb Jahren Leben.
„Ich habe nicht versucht zu leben, sondern zu überleben“, Marlene Suhr verschränkt die Arme über ihrer beigefarbenen Jacke. 68 Jahre ist die kleine Frau mit den braunen Locken alt. Zweifache Großmutter mittlerweile. Und Kind einer Alkoholikerfamilie – immer noch. „Aber wenigstens weiß ich jetzt, dass ich nicht schuld war“, sagt sie und lächelt. „Das habe ich bei Al-Anon gelernt.“ Al-Anon ist eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alkoholikern (siehe Kasten). Für Menschen, deren Leben durch die Sucht eines nahe stehenden Menschen beeinträchtigt wurde.
Marlenes Leben wurde beeinträchtigt. Sie lehnt an einem Tisch vor der Glasfront eines Gemeindezentrums in Berlin, dahinter laufen Menschen. Marlene ist auf dem Al-Anon-Treffen nicht dabei. Sie ist sechs Jahrzehnte weit weg. „Alle haben sie getrunken in meiner Familie. Alle außer den Kindern und der Großmutter.“ Mit zwei muss Marlene für die Mutter Zigaretten kaufen gehen, mit vier beginnt sie die Mutter abzuschirmen. Vor der Welt. Damit die anderen nicht merken, was los ist.
Dann kommt der Krieg. „Die Männer waren alle weg – die Frauen tranken weiter.“ 1941 wird ihre Schwester geboren. Die Mutter nimmt nur ein Vierteljahr Pause vom Saufen. 1944 stirbt der Vater an der Ostfront. „Die Mutter hatte schon längst einen anderen Mann im Bett.“ Marlene lacht kurz, fast klingt es wie ein Schrei. Ein Jahr später kommt der Frieden nach Deutschland, zu Marlene kommt er nicht. „Meine Mutter hat damals begonnen mich zu prügeln. Sie prügelte mich, bis ich nicht mehr laufen konnte. Mit Kleiderbügeln, Schrubberstiel, Teppichklopfer. Oder mit den Händen.“ Sie blickt prüfend auf ihre Finger, auf den Handrücken, verharrt mit dem Blick schließlich auf der Innenfläche. „Sie hatte unglaublich harte Hände, sehr knochig. Arbeiterhände.“ Marlenes Hände sind sehr gepflegt.
Nach dem Tod ihres Vaters kümmert sie sich noch stärker als bisher um Schwester und Mutter. Sie führt den Haushalt, ist schließlich mehr Mutter als die Mutter selbst. Zu viel für ein zehn Jahre altes Mädchen. Sie muss das Schuljahr wiederholen. „Ich war jetzt eine Sitzenbleiberin, ich hatte versagt. Mit zehn Jahren schon versagt.“ Sie hat aus lauter Scham die Schule gewechselt. Ist zur nächsten Schule gelaufen, damit ihre Spielkameraden sie nicht sehen.
Mit 15 hat sie dann zum ersten Mal genug. Genug von den Schlägen, genug vom Alkohol und sogar genug von der kleinen Schwester. Sie geht in die Küche und dreht den Gashahn auf. Während sich der Raum langsam mit dem bitteren Geruch füllt, lehnt sie an der Wand. So wie damals, als sie einschlafen wollte.
Als Marlene Suhr ihr Leben beenden will, hat das von Gabriele Strehlitz noch nicht mal angefangen. Sie wird erst 1953 geboren, irgendwo im Ruhrpott, in irgendeiner alkoholkranken Familie. Bis sie das erste Mal in einem Al-Anon-Meeting sitzt, wird es noch 36 Jahre dauern. Bis sie das erste Mal richtig weinen kann, mehr als 40 Jahre. Gabriele Strehlitz erzählt in ihrem Wohnzimmer. Davon, dass sie „den Alkohol mit der Muttermilch aufgesogen“ hat, von dem „heftigen Inzest“ mit dem alkoholkranken Vater und von ihrem ersten Mann, „einem ganz lieben Alkoholiker“.
Die Gesten, mit denen Strehlitz ihre Worte unterstreicht, passen so gut, dass man sie schon vorher erraten kann. Sie fügen sich ein in dieses Zimmer mit der hellen Stereoanlage, den Möbeln aus unbehandeltem Holz und den Zimmerpflanzen, die an metallenen Strängen befestigt von der Decke hängen. Würde man dem Bild jetzt den Ton abdrehen, man würde die Frau mit der Kurzhaarfrisur und der randlosen Brille für eine Schuldirektorin halten.
Gabriele Strehlitz hat lange gebraucht, bis sie sich erlaubt hat, den Ton anzuschalten. Bis sie „Gabriele, 50, erwachsenes Kind aus einer alkoholkranken Familie“ sein konnte. Wenn Gabriele Strehlitz erklärt, wieso da so lange nur Bild war, wird sie ganz leise und ihre Sätze immer schneller. „Wenn man in so einem Familiensystem lebt, muss man immer alles unter Kontrolle haben. Kann ja immer was passieren. Ich habe geschauspielert, eine Maske aufgehabt, war nach außen hin immer gut drauf. Das sagten auch meine Freunde, also, Gabriele, sagten die, du bist so lebenslustig, und ich war das auch, ich konnte draußen auf den Tischen tanzen, und drinnen … drinnen kamen wieder die Depressionen.“ Gabrieles Blick verliert sich irgendwo im regennassen Berliner Himmel. „Ich habe mich immer anders gefühlt als die anderen. Nicht so gleichmäßig, sondern wie Tag und Nacht. Als hätte ich zwei Leben.“
Das Tagleben, das sind Oma und Tante, beide alte Jungfern. Oder das Schmusen mit der Mutter. Oder auch die vielen Freunde, das Tanzen. Die Nacht beginnt, wenn der Schlüssel im Schloss herumgedreht wird. Wenn Gabriele im Bett liegt und sich die Ohren zuhält. Und das trotzdem nichts hilft, weil sie den Vater sieht, wie er besoffen ins Zimmer kommt, und weil sie ihn riecht und weil sie ihn später spüren muss. Weil das Bild auch ohne Ton Horror ist. Lebt ihr Vater noch? „Mhm. Aber wir haben keinen Kontakt mehr.“ Wieso? „Vor ein paar Jahren habe ich ihn mit den Vorwürfen konfrontiert.“ Und? „Er hat gesagt, ich spinne.“
Mit 16 Jahren macht Gabriele mittlere Reife, beginnt eine Lehre bei einem großen deutschen Konzern. Sie zieht aus, weg von dem Vater. Mit 18 lernt sie Olaf kennen. Beim Tanzen. Er ist zwei Jahre älter. Er ist „die erste große Liebe“. Er hat ein Alkoholproblem. Sie ziehen zusammen, heiraten. „Es hat mir nichts ausgemacht, dass er trinkt. Er war ja ein Lieber. Schimpfte nicht, schlug nicht. Und ich kannte nichts anderes.“ Gabriele hebt die Arme, lässt sie wieder fallen, hebt sie wieder. „Ich dachte wirklich, dass alle Männer trinken.“ Zwei Jahre später ist die Ehe der Gabriele Strehlitz kaputt.
Nach Olaf kommt Wolfgang. Leitender Angestellter und Spiegeltrinker. „Der Wolfgang ist Vater meiner Tochter. Der brauchte eben immer einen gewissen Alkoholpegel. Bevor er seinen Spiegel nicht hatte, war der furchtbar aggressiv.“ Sie steht auf, geht zur Kommode, legt ihren Zeigefinger auf das Holz. „Der kam rein und suchte einen Grund zum Rumschreien. Zum Beispiel weil ich nicht geputzt hatte. Er fuhr dann mit dem Finger über den Schrank hier. Und weil ich ja eher so ’ne Legere bin, lag da eben auch Staub drauf.“ Ihr Zeigefinger rutscht über das Holz. Dann streckt sie ihn triumphierend in die Luft. Die Kuppe ist gräulich.
Die Ehe hält 8 Jahre. „Ich habe ihn verlassen. Aber nicht weil er getrunken hat, sondern weil er ein Verhältnis mit einer andern hatte.“ Nach der Trennung gibt es keine zwei Leben mehr. Keinen Tag. Nur noch Nacht. Sie denkt an Selbstmord. Fragt sich, wieso ihr Leben kein Leben ist.
Doch dann kam das, was sie ein Schlüsselerlebnis nennt, das Buch „Wenn Frauen zu sehr lieben“: „Da waren ein paar Fallbeispiele beschrieben. Eines dieser Beispiele, das war meine Geschichte in Grün.“ Im Klappentext steht die Nummer von Al-Anon. Ein paar Stunden später sitzt Gabriele Strehlitz zum ersten Mal bei einem Treffen der Selbsthilfegemeinschaft. „Ich fand es völlig faszinierend. Ich konnte erzählen, was ich wollte. Und keiner hat mich dafür beurteilt. Es war so – gewaltfrei.“ Gabriele strahlt. „Ein paar Jahre später habe ich auch noch das Weinen gelernt.“ Mittlerweile hält sie Vorträge vor Schulklassen. Gabriele beugt sich vor, und für einen Augenblick ist der Schreibtisch zu sehen, der hinter ihr steht. Unter einem Stapel Papier liegt ein dünnes Buch, der Titel: „Leben vor sich haben“.
Um Leben kreist auch der letzte Gedanke, den Marlene Suhr hat, bevor sie in der gasgefüllten Küche das Bewusstsein verliert. Um das Weiterleben. Dann sinkt sie auf dem Küchenboden zusammen. Als sie wieder zu Bewusstsein kommt, ist das Gas weg und die Mutter da. Früher zurückgekommen als erwartet. Dieses eine Mal. „Von da an schlug sie mich sogar weniger. Da hatte ich dann ja richtig was erreicht. Nicht wahr?“ Hartes Lachen. „Das hat mich alles nicht davon abhalten können, zehn Jahre später doch einen Alkoholiker zu heiraten.“ Marlene heiratet mit 26. Ihr Mann ist fünf Jahre jünger. „Ich wollte erst gar nicht, aber er war ein liebenswerter Mann. Er hat so lange geredet, bis ich ja sagte. Und die erste Zeit war sehr glücklich.“ Nach zwei Jahren merkt sie, dass ihr Mann trinkt. Marlene macht das, was sie schon zwanzig Jahre zuvor gemacht hat. Sie kümmert sich, sie schirmt ab. „Ich bin eine große Organisatorin. Das habe ich ja jahrelang gelernt.“ Marlene baut eine große Fassade. Auf der Fassade sieht man ein junges Ehepaar, sie Hausfrau, er Stahlbauschlosser. Dahinter stinkt es nach Schnaps.
1963 wird Marlene schwanger. Die Hoffnung kehrt zurück. Ein Kind. Vielleicht hört er auf zu trinken, wenn er Vater ist. Es ist die erste von zwei Fehlgeburten. „Ich habe mir das selbst zugeschrieben. Erst heiratest du einen Trinker, und dann bist du noch nicht mal in der Lage Kinder zu gebären.“ Pause. „Noch nicht einmal dazu.“
Eine Frauenärztin rät Marlene schließlich zu einer Adoption. Zwei Wochen nachdem sie die Papiere zur Adoption abgegeben hat, bleibt die Periode aus. Neun Monate später ist Marlene zweifache Mutter. Es wird ein letzter Anlauf, um eine normale Familie zu werden. Er endet zwischen den ausgestreckten Händen ihres betrunkenen Mannes. Die Hände wollen ihren Hals zudrücken. „Eigentlich war er nicht gewalttätig. Aber da hatte er genug von meinen Vorwürfen, er wollte nur noch, dass ich ruhig bin. Und als ich sah, wie er seine Hände nach meinem Hals ausstreckte, da war mir klar, dass wir keine normale Familie sind.“
Marlene flüchtet mit den Kindern zu einer Freundin. Sucht im Telefonbuch nach Hilfe. Und gerät schließlich an Al-Anon. „Ich habe nicht geglaubt, dass es Menschen gibt, die das erlebt haben, was ich erlebt habe. Und das erste Mal bin ich auch nur da hin, weil ich mir das beweisen wollte.“ Aus dem ersten Mal werden zwanzig Jahre. Sie lernt, den Alkoholiker „in Liebe loszulassen“. Weil jeder für sich Verantwortung tragen muss. Und sie lernt das Neinsagen. „Nein, das ist ein ganzer Satz.“ Nach zwei Jahren hat sich Marlene so sehr verändert, „dass mein Mann Angst hatte, mich zu verlieren“. Er geht zu den Anonymen Alkoholikern. „Am Anfang hat er gedacht, das sind Leute, die heimlich trinken“, Marlene lacht. Es ist der Beginn von 15 Jahren Abstinenz. „Er starb dann im 16. Jahr seiner Trockenheit.“ Marlenes Leben hat eine eigene Zeitrechnung.
„Mittlerweile habe ich zwei Enkel. Von meinem jüngeren Sohn. Sie sind ganz nach Omas Herzen geraten.“ Und ihr Adoptivsohn? Ihr Lächeln verschwindet. „Ich habe beiden Kindern dieselbe Liebe gegeben.“ Ihre Stimme wird brüchig. „Mit zwölf haben sie ihn mir zum ersten Mal volltrunken von der Bushaltestelle in Tegel mitgebracht.“ Und dann? „Er hat 18 Jahre lang getrunken. Und dann hat er sich umgebracht.“ Ihre Stimme sackt weg. Sie weint. Man kann viel lernen in 68 Jahren. Manches wird immer unerträglich bleiben.