„Der subjektive Faktor der Migration“

Sandy Kaltenborn von „Kanak Attak“ will erreichen, dass wie in Frankreich auch hier Migranten gegen ihre Kriminalisierung demonstrieren. Dafür soll ihr täglicher Überlebenskampf als Ausgangspunkt dienen

taz: Um wen geht es, wenn Sie von Menschen sprechen, die in Deutschland ohne Papiere leben?

Sandy Kaltenborn: Illegal können im Prinzip alle werden, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben und ohne Ticket fahren, unangemeldet in einer Wohngemeinschaft leben oder ganz einfach am Sonntag auf der falschen Baustelle arbeiten. Illegalisierung ist ein Zustand und Prozess der Entrechtung, der alle Menschen ohne deutschen Pass betreffen kann. Jede Migrantenfamilie kann eine Geschichte der Illegalisierung erzählen.

Warum initiieren Sie gerade jetzt die Tour „Wir sind unter euch“ und die „Gesellschaft für Legalisierung“?

Das geplante Zuwanderungsgesetz wird tausende von MigrantInnen illegalisieren, die seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten hier leben. Geplant ist beispielsweise die Abschaffung der so genannten Duldung. Aber viele derer, die davon betroffen sind, werden lieber ohne Papiere hier leben, als sich von den Innenministern abschieben zu lassen. Während in Frankreich die zweite Generation der „Sans Papiers“ für ihre Rechte auf die Straßen geht, bleibt in Deutschland die Kriminalisierung von MigrantInnen mit irregulärem Aufenthalt weitgehend unwidersprochen. Das wollen wir ändern.

Euer Schwerpunkt unterscheidet sich von den klassischen Ansätzen antirassistischer Gruppen wie Pro Asyl.

Immer nur auf Gesetzesverschärfungen zu reagieren ist defensiv, schränkt die Handlungsräume ein und hat wenig Chancen auf Erfolg. Der subjektive Faktor der Migration, die Organisierung des alltäglichen Überlebens von MigrantInnen, muss zum Ausgangspunkt einer antirassistischen Politik werden. Wir gehen davon aus, dass das Asylrecht seine zentrale Bedeutung für Migrationsprozesse längst verloren hat.

Andere EU-Staaten reagieren mit „Stichtagsregelungen“ auf die Einwanderung von „Papierlosen“. Sind eure Forderungen daran angelehnt?

Wenn wir von Legalisierung sprechen, geht es nicht um eine rein administrative Bereinigung. Sondern um die ganze Spannbreite der Entrechtung von Migrantinnen und Migranten. Die „Sans Papiers“ sind nur die Spitze des Eisbergs. Wenn wir von Legalisierung reden, greifen wir auch die Ideologie der Integration an, die einem Teil der Migranten und Migrantinnen verspricht, es entgegen allen Unkenrufen über Diskriminierung und Rassismus trotzdem schaffen zu können.

Aber was könnte denn an die Stelle des Integrationsversprechens treten?

Die Frage der Rechte statt der Kulturalisierung der Debatte um Migration muss in den Mittelpunkt gestellt werden. Seit über vierzig Jahren wandern de facto Menschen aus anderen Ländern in die Bundesrepublik ein. Seit etlichen Jahrzehnten existiert eine Gruppe von Menschen in diesem Land, die – und das ist nur ein Teil des Problems – nicht einmal wählen dürfen. Statt diese simple Tatsache endlich anzuerkennen, werden immer neue Modalitäten gefunden, die Kanaken draußen zu halten.

Ihr startet gemeinsam mit einem breiten Bündnis eine „Offensive“. Was unterscheidet diesen Ansatz von der üblichen Kampagnenpolitik?

Der Kampf für ein Recht auf Legalisierung kann keine Ein-Punkt-Kampagne mit Stichtagsregelung für „Sans Papiers“ sein. Er versucht stattdessen an den Lebensverhältnissen anzusetzen, in denen MigrantInnen sowieso schon für individuelle oder kollektive Rechte kämpfen. Dazu gehört eine breite Mischung von Kämpfen und Forderungen: für Bleiberecht, Free Movement und gegen Residenzpflicht, für bessere Löhne, für Wahlrecht, gegen Abschiebung, für Green Cards für SexarbeiterInnen, für Selbstverteidigung und allgemein gegen Ausbeutung. INTERVIEW: HEIKE KLEFFNER