: Das Ich-Kollektiv
Jeder Gedankenstrich eine neue Absence: Matt Ruff versetzt sich in seinem neuen, gewohnt dickleibigen Roman „Ich und die anderen“ in die Psyche von multiplen Persönlichkeiten
VON FRANK SCHÄFER
Der berühmteste Gedankenstrich der Weltliteratur steht in Kleists „Marquise von O.“ Er steht da für die kurze Ohnmacht der sehr sittsamen Frau und für das, was in dieser Zeit vom Grafen F. Unsittliches mit ihr angestellt wird. Ich habe mich eigentlich immer gewundert, warum eine genderfixierte Germanistik da nicht längst einen Phallus in Habacht hineingeheimnist hat. Aber das nur am Rande.
In Matt Ruffs neuem, gewohnt dickleibigen Buch „Ich und die anderen“ – das dritte nach der Fantasy-Persiflage „Fool On The Hill“ und dem satirischen Science-Fiction-Roman „G.A.S. Die Trilogie der Stadtwerke“ – wimmelt es nur so von Gedankenstrichen. Auch sie bezeichnen immer Absencen. Und Gewalt, nicht zuletzt sexuelle Gewalt, ist hier einmal mehr das halb verborgene Skandalon, das die vielen Striche überschreiben.
Die beiden Protagonisten Andrew Gage und Penny Driver leiden unter dissoziativer Identitätsstörung. Ihre Psyche hat sich in verschiedene Persönlichkeiten gespalten, die nun miteinander um „Körperzeit“ konkurrieren. Wenn also Penny von der Nymphomanin Loins, der gewalttätigen Malefica beziehungsweise ihrer schandmäuligen Zwillingsschwester Maledicta aus dem Körper gedrängt wird, dann verpasst sie Zeit. Manchmal nur Minuten, Stunden, bei besonders heftigen Black-outs aber auch schon mal Wochen und Monate, und dann findet sie sich etwa im Bett eines schmierigen Fremden wieder. Das ist das Perfide an Pennys Situation: Die anderen Persönlichkeiten kommunizieren nicht mit ihr oder doch nur sehr eingeschränkt. Sie hinterlassen ihr Listen nur mit den allernotwendigsten Informationen.
Bei Andrew, der eigentlich eine Andrea ist, liegt das Chaos schon eine Weile zurück. Nach langer Therapie hat er gelernt, in seinem Kopf Ordnung zu schaffen. Seine „Seelen“ leben miteinander wie in einer WG und bekommen ihren Bedürfnissen entsprechend von ihm zeitweise die Kontrolle über den Körper zugesprochen. Nur Gideon, der Egomaniac, der in die Wüste geschickt wurde, weil er schon früher versucht hat, den Körper in seine Gewalt zu bringen, macht wieder Probleme. Er reißt aus, will zurück in die Heimatstadt und dort Haus und Grundstück seiner längst verstorbenen Eltern veräußern. Andrew kann den Spuk zwar zunächst bannen, auch wenn Gideon weiterhin der spannungssteigernde und für überraschende Wendungen sorgende Springteufel im Handlungsgefüge bleibt. Er glaubt nun aber seinerseits, sich der dunklen, mehr oder weniger verdrängten Vergangenheit stellen zu müssen: Ist die über alles geliebte Mutter wirklich schon in früher Kindheit gestorben und hat deshalb die sexuellen Übergriffe des Stiefvaters nicht verhindern können? Hat Andrew, beziehungsweise sein Alter Ego, seinen verhassten Stiefvater vielleicht selbst umgebracht?
Penny begleitet ihn auf diesem Roadtrip in die Heimat des Schmerzes, und in langen Rückblenden werden nun die Leidensgeschichten der beiden erzählt. Am Ende haben beide aus dieser Reise gelernt. Penny beginnt langsam, ihre anderen Persönlichkeiten zu akzeptieren und sich mit ihnen zu verständigen. Andrew weiß nun, dass er niemand getötet hat, und kann sich endlich an die Schlüsselszene erinnern, die sein altes Ich, Andrea, hat sterben lassen – den kaltsinnigen Verrat ihrer Mutter.
Ruff ist ein gewiefter Plotter. Er erzählt immer alternierend aus der Perspektive Andrews und Pennys. So kann er vorführen, wie es sich anfühlt, wenn das Leben seine kohärente Struktur einbüßt, ohne dem Leser etwas schuldig bleiben zu müssen. Denn schon im anschließenden Kapitel werden ja, aus der Alternativperspektive, die fehlenden Handlungsfetzen nachgereicht.
Diese Methode demonstriert nicht nur ganz adäquat die kognitive Zerrüttung der „Multiplen“, sie dramatisiert zudem den Plot, lässt relativ simple Vorgänge rasante, erzählerisch eindrucksvolle Haken schlagen. Nur bekommt dieser stete Personalwechsel im letzten Drittel immer öfter etwas Mechanisches, Willkürliches. Vielleicht fällt es einem jetzt erst so deutlich auf: Droht die Handlung mal auf der Stelle zu treten, kommt flugs ein anderes Ich und mischt den Laden wieder richtig auf. Diese Ausfälle und Abschweifungen tragen oft nicht viel bei, und nach dem dritten, von wüsten Verbalinjurien begleiteten Saufgelage Maledictas hält sich auch der szenische Spaß in Grenzen. Es hätten also schon ein paar Seiten weniger getan.
Aber Ruff gelingt es immerhin, alle Facetten seines Themas auszuleuchten. Er drückt sich auch nicht vor den schwierigen ethischen Implikationen. Etwa der Frage, ob das Ich-Kollektiv in Sippenhaftung zu nehmen ist, wenn nur eine Seele ein Verbrechen begeht.
Matt Ruff hat mit diesem Roman das menschenfreundliche Porträt einer Verrücktheit geschrieben, die vor allem eins ist: eine kreative Leistung, ein vielschichtiges Kunstwerk im Kopf als Ausweg der Psyche aus einem unerträglichen Lebenskontext. Es geht denn auch gar nicht in erster Linie um eine wirkliche Heilung, also um die Reintegration der Teil-Ichs, sondern es gilt einigermaßen klarzukommen in dieser Vielheit.
Als die Marquise von O. am Ende ihrem Grafen verziehen hat, erklärt sie sich: „Er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Begegnung, wie ein Engel vorgekommen wäre.“ Beide stecken offensichtlich in einem Menschen. Und laut Ruff auch noch ein paar mehr.
Matt Ruff: „Ich und die anderen“. Aus dem Amerikanischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, München 2004, 600 Seiten, 24,90 Euro