: Das gelobte Land
Der bequeme Glaube an großen französischen Bordeaux als ultimative Spitze der geografischen Weinpyramide ist längst von der Realität überholt. Große Weine können überall auf unserem Planeten produziert werden
von STUART PIGOTT
In einem Interview in der Zeitschrift WeinGourmet wurde Gérard Margeon, Chefsommelier der Restaurants von Alain Ducasse, als Kopf einer kosmopolitisch neuen Generation französischer Sommeliers dargestellt. Das hatte durchaus Berechtigung, da unter seiner Ägide achthunderfünfzig nichtfranzösische Weine angeboten werden.
Doch auf die Frage „Welches Weinland ist momentan das weltweit führende?“ begann seine Antwort mit den Worten: „Frankreich hat das beste Terroir“, als könne es gar keinen Zweifel geben, dass Gott dieses kleine Land am nordwestlichen Rand des kleinen Kontinents Europa mit den besten Bedingungen des gesamten Planeten für alle denkbaren Rebsorten ausgestattet habe.
Dieses Vorurteil steckt nach wie vor in vielen Köpfen von Fachleuten und Konsumenten, weil es immer wieder auf solche Weise gepredigt wird. Selbst wenn man sich bei den Mitbewerbern auf die Weine der in Bordeaux vorherrschenden roten Sorten Merlot und Cabernet Sauvignon beschränkt, ist die Konkurrenz aus vielen Richtungen enorm stark. Ich erinnere mich noch gut an meinen letzten Besuch bei Cullen Wines in Wilyabrup im westaustralischen Margaret River. Ihr 1999 Cabernet Sauvignon-Merlot war von majestätischer Fülle und atemberaubender Finesse, sämtlichen gerade verkosteten 2001 Grand Cru Classés aus Bordeaux weit überlegen, obgleich 1999 kein besonders gutes Jahr war für Margaret River.
Ja, aber diese Weine altern nicht wie Bordeaux!“, lautet die Standardantwort von Bordeaux-Winzer und -Fans, wenn sie mit großen Weinen aus Bordeaux-Rebsorten, aber aus ganz anderen Ecken der Weinwelt konfrontiert werden. Doch zum Mittagessen tranken wir den Cullen 1979, und der Wein war immer noch voller Leben, Würze, dunklen Karamellaromen und elegantem Nachhall. Er stand den besten Rotweinen aus Bordeaux, die ich aus den Jahrgängen Ende der Siebziger erlebt habe, in nichts nach.
Warum beharren die meisten älteren Weintrinker dann so störrisch auf der hierarchischen Ordnung der Weinwelt, die roten Bordeaux ganz oben an die Spitze stellt? Die Antwort liegt in einem Wort, auf das ich immer wieder in Artikeln und Büchern zu diesem Thema stoße: „Prestige“.
Aber worin besteht das Prestige bestimmter Weine? Es ist die Aura, die sie – ihre Namen, ihre Erscheinung, ihr Image – ausstrahlen, etwas, das mit Status zu tun hat, dem Zurschaustellen und Vermitteln von wirtschaftlichem und sozialem Wert. Dass jemand eine Flasche Bordeaux 1er Grand Cru Classé für mich öffnet, sagt mir, man nimmt an, ich sei das angeblich Beste wert. Dieser Effekt ist jedoch vollkommen unabhängig von dem eigentlichen Geschmackserlebnis; es ist Namentrinken, Etikettentrinken und Imagetrinken.
Letztes Jahr kommentierte ich im Hotel Louis C. Jacob in Hamburg zusammen mit dem Sommelier des Hauses, Hendrik Thoma, ein Wein-Diner für ausgewählte Private-Banking-Kunden einer bedeutenden Bank. Zu jedem Gang hatte Thoma zwei Weine ausgesucht, die blind serviert wurden. Die Gäste probierten die Weine und wurden dann aufgefordert, für ihren Favoriten durch Handzeichen zu stimmen. „Linkes oder rechtes Glas?“, lautete jeweils Thomas Frage.
Zum Fleischgang wurde 1997 Sociando-Mallet (Bordeaux) und 1997 Thelema Mountain Vineyard Cabernet Sauvignon aus Stellenbosch in Südafrika serviert. Beides waren gute Weine, aber das Publikum zog letzteren vor; er war in der Tat der stärkere, harmonischere und nachhaltigere der beiden.
Als Thoma die Identität der Weine aufdeckte, sorgte das für große Verwirrung bei einem Paar mittleren Alters an meinem Tisch, die besonders nachdrücklich in ihrem Lob für den Thelema gewesen waren. „Müssen wir jetzt südafrikanische Weine kaufen?“, fragte sie klagend, als sei dies ein äußerst beunruhigender Gedanke, „oder besitzt nicht der Bordeaux einen bleibenden Wert?“
Voller Nervosität, weil er sich auf ihm nicht vertrauten Terrain der Weinwelt bewegen musste und noch dazu ein bedeutender Teil der Welt der Luxusgüter in Frage gestellt worden war, bestätigte einer der Repräsentanten der Bank: „Man fühlt sich bei Bordeaux sicherer.“
Das ist es, was die Steinfassaden der noblen Chateaux, ihre ausgedehnten Keller voller Barriquefässer, aufgereiht wie Soldaten bei der Parade in makellosen Uniformen, und die Stapel von Holzkisten in den Kellern wohlhabender Leute ausstrahlen: Sicherheit. Und wer hat nicht Sehnsucht nach Sicherheit, festem Boden unter den Füßen?
Auf meinen Reisen ist mir klar geworden, dass diese Sicherheit ganz und gar illusorisch ist und seit langem durch die sich ständig wandelnde Realität der modernen Weinwelt abgelöst worden ist, in Bordeaux ebenso wie anderswo rund um den Erdball. Auf allen Kontinenten, die ich bereist habe, ist Wein stellenweise durch Globalisierung und Industrialisierung zu einem völlig standardisierten und stark manipulierten Produkt geworden.
Doch in allen besuchten Gebieten stieß ich auch immer wieder auf Winzer, die sich den Problemen und Vorteilen ihres Landstrichs nüchtern stellen, die geeignete Rebsorten pflanzen und ihnen sorgfältige Pflege angedeihen lassen, mit großem Respekt für die Natur die Trauben ernten und im Keller verarbeiten und auf diese Art und Weise große Weine hervorbringen.
Theoretisch gibt es dabei anerkannte klimatische Grenzen, aber meine Reisen zeigten auch, dass diese Theorien ebenso überholt sind wie die alten Weinhierarchien. Niemand kennt die tatsächlichen Grenzen des Möglichen beim Weinbau auf unserem Planeten, und durch die Klimaveränderungen handelt es sich um variable Größen.
Ich habe Cabernet Sauvignon aus den Bergen nördlich von Bangalore in Indien getrunken, der gelungen war, trockenen weißen Semillon aus dem Norden Thailands, der sogar noch besser schmeckte, und in meinem Geburtsland England habe ich einen großen Schaumwein entdeckt, der dies ebenfalls bestätigte.
Ich kann mich nicht genau erinnern, wann es geschah, vielleicht war es in einem Flugzeug hoch oben über dem Pazifik oder dem Atlantik, aber es gab einen Moment, an dem ich mich endgültig vom letzten Funken Sehnsucht nach der illusorischen Sicherheit von Weinhierarchien verabschiedete und mich für Planet Wein entschied.
Das bedeutet, bei der Weinerzeugung keinen Punkt der Erde als grundsätzlich höherwertig gegenüber einem anderen zu betrachten. Jeder Punkt auf der Erdoberfläche besitzt, ausgenommen diejenigen, wo das Klima tatsächlich zu extrem ist für die Rebe, ein gewisses Potenzial, das verborgen bleibt, bis es jemand erkennt und in Form von Wein verwirklicht.
Ob dies an einem bestimmten Ort gestern oder vor tausend Jahren zum ersten Mal geschah, ist eine Frage des Zufalls. Unabhängig davon ist der Wein genauso gut oder schlecht, wie er im Glas schmeckt und riecht, und ein Winzer hat erst dann wirklich etwas erreicht, wenn es ihm gelingt, einen Wein mit einem guten und besonderen Geschmack zu erzeugen, der nicht einfach nur die Kehle hinunter in Vergessenheit fließt, sondern eine Spur in Bewusstsein und Gedächtnis hinterlässt. Dann schmeckt man einen bestimmten Ort auf Planet Wein, statt nur ein mehr oder weniger angenehmes Getränk zu konsumieren.
STUART PIGOTT, Jahrgang 1960, zählt zu den weltweit renommiertesten Weinautoren. Er lebt seit 1993 in seiner Wahlheimat Berlin. Der hier in Auszügen abgedruckte Artikel ist seinem soeben erschienenen Buch „Schöne neue Weinwelt – Von den Auswirkungen der Globalisierung auf den Weingeschmack“ entnommen (Berlin, Argon Verlag, 348 Seiten, 24,90 Euro)