: Die Tochter Gottes
Für Theodor Dreyers Stummfilm „Passion der Jeanne d’Arc“ verwandelt sich die Musikhalle in Hamburgs größtes Kino
Was ist religiöse Erfahrung? Eine schleierhafte Kategorie, auf die sich Gläubige und Kirchgänger berufen. Vielleicht meinen sie damit aber etwas ähnliches wie das kathartische Hochgefühl, das Filmkunst Kinogängern einflößen kann. In Carl Theodor Dreyers Passion der Jeanne d’Arc von 1928 kann man es heute Abend erfahren.
Der Film handelt nicht von der Soldatin Jeanne. Stattdessen zeigt er den religiösen Prozess, den burgundische Kleriker unter dem Schutz der englischen Besatzer der jungen Frau in Männertracht machen. Ihr Vergehen: Sie glaubt nicht an die Kirche, wähnt sich in direktem Kontakt mit Gott. Darauf steht im 15. Jahrhundert Scheiterhaufen. Doch Jeanne (Renée Falconetti) schwört nicht ab und geht in den Tod. Während ihr Körper verkohlt, bricht unter dem versammelten, gebannten Volk ein Aufstand gegen die Engländer aus. Wie eine griechische Tragödie zeigt Dreyers Gerichtsdrama nur den letzten Schritt der Heldin in den Abgrund. Bloß ist diese Heldin nicht tragisch verblendet, sondern erleuchtet. Jeanne d’Arc handelt davon, wie sie in ihrem Leiden zur Heiligen wird.
Dieser Prozess spiegelt sich auf den Gesichtern. Jeanne d’Arc ist eine einzige Sequenz von Mienen und Blicken. Dreyer verzichtet in nie dagewesener Kühnheit auf establishing shots, die räumliche Verhältnisse klar machen würden. Die Visagen der Richter werden von unten und in dialektischer Bewegung gefasst, Jeannes ungeschminktes Gesicht dagegen in fixen Einstellungen von oben. Dabei wechselt Dreyer in schnellen Schnitten sprunghaft die Perspektive, zeigt Jeanne mal von rechts, mal von links, mal am Bildrand, mal angeschnitten. In dieser gleichsam kubistischen Montage wird ihr innerer Kampf sichtbar: von der anfänglichen Verstörtheit, über Zweifel und Hoffnung, bis zum Triumph.
Natürlich ist diese Dreyer-typische Verherrlichung des Opfers fürs heutige Publikum ein Skandal. Sie sollte aber nicht vorschnell als archaisch abgetan oder darauf verkürzt werden, weibliches Engagement koste nun einmal das Leben. Das täte Jeannes Radikalität Unrecht. Sie ist in ihrem Opfer kein Opfer, sondern Siegerin. Sie geht gegen Obrigkeit, Kirche, Konvention bis zum Äußersten, weil sie glaubt, weil sie die Wahrheit gesehen hat. Und die aufbegehrende Masse am Ende – das könnten wir sein, die Zuschauer. Jeanne d’Arc müssen wir glauben, für 90 Minuten zumindest.
Für zeitgenössische Nationalisten war der Skandal dagegen, dass ausgerechnet ein Däne die Ikone Frankreichs auf die Leinwand brachte. Die Produktionsfirma kam ihnen damals mit einer französelnden Begleitmusik entgegen, die lange als authentisch galt. Die Aufführungspraxis der Stummfilmzeit war aber so heterogen, dass die Frage nach „authentischer“ Musik sinnlos bleibt. Da ist die Improvisation von Thierry Mechler in der Musikhalle eine gute Lösung, passenderweise auf der Orgel.
Jakob Hesler
heute, 20 Uhr, Musikhalle, Großer Saal, Hamburg