: Demokratie aus eigener Kraft
Die EU-Bürger sollten gegen die Aufnahme von heuchlerischen Verhandlungen mit der Türkei eintreten – und für eine eigenständige Entwicklung der türkischen Republik
Es ist schon merkwürdig: Da klopft eine türkische Regierung nach einem unglaublichen Kraftakt und einiger Selbstüberwindung an die Tür der Europäischen Union – und die Kommentare der europäischen Presse erwecken den Eindruck, dass die Mehrheit der Meinungsmacher verzweifelt einen Ausweg sucht, um die Türkei einerseits nicht in die EU zu lassen, andererseits aber auch nicht völlig zu verprellen. „Wer anderen eine Grube gräbt“, schreibt etwa die bis dato als linksliberal geltende Süddeutsche Zeitung, „fällt bekanntlich selbst hinein.“ Ebendas sei Europa mit der Türkei passiert. Wie sollen wir das verstehen?
Hat die EU es etwa niemals wirklich ernst gemeint mit der Vollmitgliedschaft der Türkei? Hat Brüssel nie damit gerechnet, dass Ankara wirklich die Kriterien für Aufnahmeverhandlungen erfüllen würde? Haben europäische Politiker nur deshalb türkische Schultern geklopft und vollmundig den Beitritt versprochen, weil dieser nie wirklich anstand? Weil doch jedes europäische Kind weiß, dass die Türkei nicht zu „uns“ gehört und niemals gehören wird?
Tatsächlich wird die Republik Türkei niemals EU-Vollmitglied werden – zumindest nicht in der Form, in der sie heute besteht. Türkische EU-Bürger werden niemals die größte Fraktion im Europäischen Parlament stellen und mit 16 bis 17 Prozent der Sitze den deutsch-französischen Führungsanspruch gefährden. Und muslimische Türken werden niemals bloß mit einem Personalausweis die Grenzen passieren und dort Geschäfte machen, Arbeit suchen oder ihre Rentenjahre verbringen, wo es ihnen gefällt.
In der Türkei mit ihren 70 Millionen Einwohnern leben rund 10 Millionen Menschen auf dem Niveau eines belgischen oder deutschen Mittelständlers. Der Rest bezieht ein indisches Durchschnittseinkommen. Die Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sind völlig desolat. Wehe dem, der den überfüllten, unsterilen, schlecht ausgestatteten staatlichen Kliniken ausgeliefert ist. Nur wer ein monatliches Einkommen von 2.700 Euro hat, kann sich ein menschenwürdiges Leben leisten: Eine Privatschule für den Nachwuchs etwa, damit der nicht in einer staatlichen Schule mit 50 Kindern in der Klasse den Launen eines Lehrers ausgesetzt ist, der jährlich 5.608 Dollar verdient, während sein deutscher Kollege 58.839 Dollar erhält.
Derweil nutzen gewiefte Geschäftemacher aus dem In- und Ausland den wilden Kapitalismus in der Türkei aus, um mit überteuerten Dienstleistungen und Warenangeboten Kapital aus dieser Situation zu schlagen. Eine eigenständige Wirtschafts- und Sozialpolitik kann nicht mehr betrieben werden, weil das Establishment den Diskurs so weit manipuliert hat, dass sich alles um den EU-Beitritt dreht. Wer von „unseren Interessen“ spricht, wird von den Nutznießern der heutigen ungleichen Entwicklung gnadenlos als „Nationalist“ gebrandmarkt.
Dabei wissen die Eurotürken am besten, wie ihre Interessen zu schützen sind, ohne die partnerschaftlichen Beziehungen zum Ausland und die Demokratie im Inland völlig aufzugeben. Die EU hat 1995 mit der EU eine Zollunion unterschrieben – der erste Schritt zu einem Sonderstatus für die Türkei, denn kein anderes Land hat seinen Markt einseitig einem derart überlegenen Partner geöffnet. So kann die Türkei ihre Agrarprodukte und Textilien zwar nicht uneingeschränkt in die EU exportieren – aber jeder Supermarkt im Lande quillt mittlerweile von europäischen Waren über.
Grünen-Chefin Claudia Roth berichtete aus den Ausschusssitzungen, wie sich die konservativen deutschen Abgeordneten damals darüber freuten, dass „wir die Türkei so billig haben konnten“. Die Hoffnung, dass die Zollunion das Niveau der türkischen Produktion hebt und die Wirtschaft wettbewerbsfähiger macht, hat sich nicht erfüllt. Europäische Firmen kamen allenfalls, um mit erfolgreichen türkischen Partnern Jointventures einzugehen – und diese dann in Eigenfirmen umzuwandeln.
Die Zollunion beschert der schwachen türkischen Wirtschaft derweil ein ständig wachsendes Handelsdefizit: In den ersten acht Monaten dieses Jahres stiegen die Importe um 41,1 Prozent auf 61,7 Milliarden Dollar, während die Exporte um 32 Prozent auf 38,7 Milliarden Dollar zunahmen. Das türkische Defizit vergrößerte sich von 14,4 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr um 59 Prozent auf knapp 23 Milliarden Dollar.
Tatsächlich haben Verfechter einer Aufnahme von Beitrittsgesprächen wie der deutsche Kanzler Gerhard Schröder die Öffentlichkeit bis heute über ihre wahren Gedanken bezüglich der Türkei im Unklaren gelassen, weil sie selbst nicht an den türkischen Beitritt glauben. Sie wissen, dass dieser für die Türkei in jeder Hinsicht ein Kraftakt ist. Und dass sie aufgrund ihrer desolaten Wirtschaft, der inneren Spannungen um des Laizismus oder der Minderheitenfragen zumindest in den nächsten Jahrzehnten keinesfalls europäisches Niveau erreichen wird. Das derzeitige Theater um den EU-Beitritt hat zum Ziel, dass die Union ihren wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf die Türkei beibehält. Deshalb treten Politiker wie Günter Verheugen dafür ein, das Land weiterhin in seiner einseitigen Anbindung an Brüssel zu halten.
Aus dieser Lage muss die Türkei Schlüsse ziehen. Sie muss lernen, Demokratie und Menschenrechte endlich aus eigener Kraft voranzutreiben – und nicht aus Angst vor europäischen Prügeln. Sie muss ihre Beziehungen zur EU auf eine wirklich gleichberechtigte Basis stellen und ihre Wirtschaft wieder selbst in die Hand nehmen, um die materiellen Grundlage für eine eigenständige Entwicklung zu schaffen. Die Zollunion mit der EU muss so weit revidiert werden, dass die Türkei ihre eigene Produktion ankurbeln und sich gezielt vor der hemmungslosen Einfuhr von europäischen Waren schützen kann. Der türkische Staat muss sich mit dem Weltwährungsfonds und der Weltbank an den Tisch setzen und seine Schulden neu ordnen, damit er nicht mehr wie heute 60 Prozent seines Etats allein für Zinsen aufwenden muss.
Eine gute Sozialpolitik und eine sanierte Wirtschaft werden die Grundlagen besserer Beziehungen innerhalb der türkischen pluralistischen Gesellschaft und zu Europa darstellen. Die Alternative ist, „Verhandlungen“ zu den fragwürdigen Bedingungen Brüssels aufzunehmen, deren erfolgreicher Abschluss von der EU nicht einmal versprochen wird. Die „Einmischung“ der EU wird dann von den wirklichen Nationalisten in der Türkei täglich bekämpft werden, sodass die Demokratisierung erst recht gefährdet ist. Die Bevölkerung ist jetzt schon verunsichert, ob der eingeschlagene Weg der richtige sei. Kein Investor kommt in die Türkei, wenn ihr EU-Beitritt nicht gesichert ist. Jeder vernünftige EU-Bürger sollte heute gegen die Aufnahme von heuchlerischen Verhandlungen und für eine wirkliche eigenständige Entwicklung der Republik Türkei eintreten – denn nur so kann diese wirklich zum gleichberechtigten Partner werden.
DILEK ZAPTÇIOGLU