Sakralisierung als Krankheitserreger

Die Trauerweiden am Landwehrkanal, die Apfelbäume am Michaelsberg oder der Palast der Republik: Eben standen sie noch für das fraglos Gewohnte – jetzt geht es plötzlich ums Ganze, um die Totalität. Gedanken zu einer Kulturtechnik

VON MICHAEL RUTSCHKY

Die Geschichte tritt in unterschiedlichen Formaten in Erscheinung, mal größer, mal kleiner. Zu keiner weithin strahlenden Geltung brachte es der Weidendamm, wo die Behörde eine Reihe von Bäumen fällen ließ, um für das neue Busterminal Platz zu schaffen. Die Anwohner druckten mittels ihrer Computer eine Serie von Plakaten, auf denen sie die Behörde beschimpften. Der schlimmste Verdacht war merkwürdigerweise: dass die Behörde die Bäume in Vorbereitung der Landesgartenschau fälle, die diesen Sommer ansteht. Man kann voraussagen, dass die Bürger die Schau massenhaft besuchen werden – aber jetzt, wo die Bäume wie gewohnt dastehen in meinem Quartier, verwandeln sie sich in einen heiligen Hain, weil sie entfernt werden sollen.

Größer stellte sich die Geschichte am Landwehrkanal dar. Der Baumbewuchs – marode, wie die Behörde behauptete – bedroht die Ufermauern, und der Kanal könnte seine Befahrbarkeit verlieren, weshalb die Behörde die Bäume fällen und die Ufermauern rekonstruieren lassen will. Hier entstand eine Volksbewegung zur Rettung der Bäume; Menschenketten stellten sich der Obrigkeit in den Weg, wütende Verhandlungen begannen, Maßnahmen und Gegenmaßnahmen wurden ergriffen.

Ebenso grandios gestaltete sich die Sache mit dem Michaelsberg. Ihn plant die Behörde als Weinberg zu rekultivieren, was die Vernichtung der Streuobstwiesen implizierte, die sich bislang dort breitmachten. Diese Apfelbäume sind gleichfalls marode und wären in ein paar Jahren hin – aber seit ihre Entfernung anstand, kämpfte eine Bürgerinitiative um ihren Erhalt, als ginge es um den Paradiesgartens.

Bäume bilden den Gegenstand der Sakralisierung. So, wie sie seit langer Zeit dastehen, wie man sie am Weidendamm, am Landwehrkanal, am Michaelsberg gewohnt ist.

Hört man genauer hin, was die protestierenden Bürger meinen, kommt man jedoch bald darauf, dass diese Bäume symbolisch sind: Sie stehen ganz allgemein für die Natur, die seit langem als Gegenstand der Sakralisierung taugt, und wir gelangen vom Weidendamm oder dem Landwehrkanal stracks in den Steigerwald – oder welcher Wald gerade ansteht –, der als Nationalpark eingezäunt und unbetretbar gemacht werden soll, weil hier jahrhundertealte Buchen siedeln. Der abgesperrte, zum Nationalpark, womöglich zum Weltnaturerbe erklärte Wald stellt gegenwärtig das Heiligtum mit der größten Überzeugungskraft dar – dass Deutschland die meisten seiner Wälder, wie Landschaftshistoriker erzählen können, Ende des 18. Jahrhunderts anpflanzte, dass sie keineswegs aus der Urzeit stammen, aus Germanien, als der Teutoburger Wald Hermann dem Cherusker quasi als Bundesgenosse gegen das römische Imperium diente, dies ist kein sicher verbreitetes Wissen.

Die Trauerweiden am Landwehrkanal, die Apfelbäume am Michaelsberg, irgendwann hat man sie angepflanzt. Was sie jetzt der Sakralisierung zugänglich macht, das ist die Gewohnheit: Sie stehen wie ewig da, wie unverrückbare Natur. Ein großer Kulturkampf der letzten Jahre setzte hier ein, an der Verwandlung von Gewohnheit in Natur und deren Sakralisierung: der Kampf gegen die Reform der deutschen Rechtschreibung. Dass es sich bei der Orthografie um ein Arbeitsprodukt, um eine kulturelle Konstruktion handelt – die deshalb auch stets anders ausschauen kann –, das machte der Kampf vergessen. Die gewohnten Schreibweisen erschienen als die natürlichen, und ihre Sakralisierung setzte eine Wut frei, die auf die Rückkehr zu dieser Natur drängte – was natürlich unmöglich war.

In meinem Berichtszeitraum lieferte ein besonders schlagendes Beispiel, wie ein Arbeits- und Kulturprodukt sakralisiert werden kann: der anhaltende und durchdringende Kampf um die Sanierung der Staatsoper in Berlin. Den Naturzustand stellte hier ein genau datierter historischer Zustand dar, der Innenausbau der Staatsoper zu Zeiten der DDR, aus den Fünfzigerjahren. Diese Innenausstattung waren die Kulturbürger gewohnt. Der Status quo unterlag der Sakralisierung, und die Kulturbürger bewiesen mit außerordentlichem kunst- und baugeschichtlichem Scharfsinn, dass die Staatsoper innen keinesfalls anders aussehen dürfe. Denn der Innenraum erweist sich, wie ein Kritiker fromm resümierte, als geschichtspolitisch hochgreifender Versuch, das neue sozialistische Deutschland in ein Verhältnis zur friderizianischen Epoche zu setzen. Und damit, fügen wir hinzu, nimmt der Opernraum aus den Fünfzigerjahren den sakralen Charakter der jahrhundertealten Buchen aus dem Steigerwald an. Will sagen, ob es um ein Naturprodukt oder um eines der Geschichte geht, ob es 200 oder 50 Jahre zählt, das bleibt der Sakralisierung äußerlich. Das Objekt ist gleichgültig; meinetwegen Streuobstwiesen.

In der Hauptstadt braucht es nur einen kurzen Weg, um von der Staatsoper zu dem Ort zu gelangen, an dem ein großer anhaltender Kulturkampf mit den Mitteln der Sakralisierung geführt wird. Das Berliner Stadtschloss. Die Geschichte gestaltete sich deshalb besonders prägnant, weil das sakrale Objekt fehlt. Ja, um den Wiederaufbau des Stadtschlosses überhaupt ins Auge fassen zu können, musste das Objekt, welches sich stattdessen dort befand, erst beseitigt werden, der Palast der Republik, seinerseits für die Sakralisierung offen, die in den begleitenden Kämpfen gut zum Zuge kam. Den Abriss des Palastes der Republik begleiteten engagierte Bürger mit Klagen über die Profanierung, ja Schändung eines Ortes von hohem Sinn, Klagen, die den Ort rückwirkend heiligten. Das Stadtschloss, von dem unbekannt bleibt, wen und was es beherbergen soll, wünscht die andere Fraktion gleichsam als Hohlform des Heiligen herbei, das von hier aus auf die ganze Republik abstrahlen sollte. Wobei die Fantasie, hört man genauer hin, ursprünglich auf die originalgetreue Wiederherstellung zielte; nur so könnte das Stadtschloss als architektonischer Beeinflussungsapparat die ersehnten Wunder bewirken – mit den genaueren Planungen, die ein ganz anderes Gebäude entwerfen, verliert dies Fantasieren an Kraft.

Die Streuobstwiesen, das Schloss, das ausschließlich in der Vergangenheit existiert – die Sakralisierung, wie gesagt, ist eine Technik, die beliebige Objekte zu verwandeln vermag. Im Berichtszeitraum tauchte der Fall Eluana Englaro wieder einmal auf. Unterdessen ist sie 37 Jahre alt. 1992 versetzte sie ein Verkehrsunfall in ein irreversibles Koma, in einen vegetativen Zustand, wie die Ärzte sagen, in dem sie nur Maschinen am Leben erhielten. Diese Maschinen abzuschalten und der Natur ihren Lauf zu lassen, das suchte ihr Vater Beppino Englaro die ganze Zeit bei den Behörden durchzusetzen. Endlich entschied das oberste Gericht in Rom in seinem Sinne. Aber das lombardische Krankenhaus, das Eluana Englaro in Betrieb hält, verweigerte den Gehorsam. Es folgt den strikten Vorschriften der römischen Kirche, wann die Hoffnungslosigkeit anzuerkennen und die Maschinen abzuschalten sind.

Wie man zusammenfassen darf, sakralisiert die römische Kirche das biologische Leben als solches, wie das Verbot des Selbstmordes ebenso wie der Empfängnisverhütung lehrt. In den Kulturkämpfen, die hierzulande um die Sterbehilfe toben, erkennt man dieselbe Sakralisierung am Werk.

Hier betrifft die Sakralisierung den menschlichen Körper, und es eröffnen sich moralische, juristische und historische Fragen, von denen man den Eindruck gewinnt, sie seien unbeantwortbar – sie verlangen nach Entscheidung. Lehrreich für unseren Zusammenhang ist, was die Sakralisierung aus dem Körper Eluana Englaros macht. Sie verwandelt sie in Exempel. Sie versetzt den Körper, der nur noch vegetiert und sich nicht mehr wehren kann, in eine höhere Sphäre der Bedeutung, wo es um das Leben schlechthin, die Menschenwürde, die Grundüberzeugungen einer Gesellschaft geht. Das lässt sich ja ebenso für die Bäume am Weidendamm und am Landwehrkanal, die Streuobstwiesen und den Palast der Republik sagen. Eben standen sie noch für das fraglos Gewohnte (das so bleiben respektive wiederhergestellt werden soll) – jetzt geht es plötzlich ums Ganze, um die Totalität.

Der Umbau der Staatsoper demonstriert den Ostdeutschen, wie rücksichtslos die westliche Republik mit ihrem Erbe verfährt; wenn die Obrigkeit die Streuobstwiesen am Michaelsberg rodet, enthüllt sie damit ihre barbarische Ignoranz gegenüber Natur und Geschichte, wie sie den Bürgern teuer ist und so weiter. Der Soziologe Jean-Claude Kaufmann hat gezeigt, wie die Frage nach der Identität ungefähr seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts zu einem zentralen Sozialisationsmechanismus sich entwickelte. Kein fixes Rollenprogramm beantwortet die Frage mehr. Und sie ist nicht im Innenraum des Individuums oder durch Rekurs auf sein Geschlecht, seine Herkunft, seine Überzeugungen und Werte zu beantworten. Die Frage nach der Identität setzt eine ungeheure Dynamik der gesellschaftlichen Welt frei. Wer bin ich – jeder muss die Frage jeden Tag durch zahllose Einzelmaßnahmen beantworten, die nie zu einem befriedigenden Abschluss führen. Da scheint die Sakralisierung als Technik und Verfahren eine Lösung anzubieten.

Dies Produkt der Natur oder der Geschichte, dieser Körper bin so endgültig und unwiderruflich ich, dass das furiose Fragen aufhört. Die Stadt, die am Michaelsberg die Apfelbäume beseitigt, dies ist nicht mehr meine Stadt. Nun ist allerdings immer wieder zu beobachten, dass die Sakralisierung beliebiger Objekte der Natur oder Geschichte Kulturkämpfe begleiten; die Sakralisierung löst sie aus oder ist eine strategische Maßnahme in diesen Kämpfen. Will sagen, statt die Frage nach der Identität befriedigend zu beantworten, stachelt die Sakralisierung das Grübeln erst an. Wie so oft, erweist sich das Heilmittel als der Krankheitserreger.

MICHAEL RUTSCHKY, Jahrgang 1943, lebt als freier Autor in Berlin