: Erosionen auf der Lohnskala
Der Streit um die Fixierung von gesetzlichen Mindestlöhnen muss jetzt geführt werden. Nur so lässt sich die zunehmende Ausweitung eines Billiglohnsektors noch stoppen
Deutschland entwickelt sich in den letzten Jahren immer mehr zu einem Billiglohnland. Diese massive Fehlentwicklung ist durch die Kritik am geplanten Arbeitslosengeld II und seinen Folgen deutlich geworden. In den USA ist diese bittere Wirklichkeit schon länger unter der Bezeichnung working poor bekannt – also Armut trotz Erwerbsarbeit, und zwar mangels ausreichender Entlohnung. Doch auch hierzulande verbreitet sich dieses Phänomen inzwischen in rasantem Tempo.
Heute reichen die Stundenlöhne in Deutschland von 2,74 Euro für einen Angestellten im Gartenbau in Sachsen über 3,91 Euro, die einem Wachmann in Mecklenburg-Vorpommern für seine Nachtarbeit gezahlt werden, bis zu 5,70 Euro für einen Angestellten in der Pinselindustrie in Bayern – die Zahlen hat das Wirtschaftsforschungsinstitut WSI beim DGB errechnet.
Welches sind die Gründe für die Ausweitung der neuen Billiglohnklasse? Und wie kann diese Entwicklung gestoppt werden? Ein wichtiger Grund liegt sicher in der derzeitigen Praxis des Tarifvertragssystems. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit sowie der Druck, der durch tariffreie Arbeitgeber entstanden ist, beraubt die Gewerkschaften ihrer Kraft, am unteren Ende der Lohnskala noch gestaltend einzugreifen. Eine Statistik des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit belegt, dass bei mehr als 130 Tarifverträgen für rund 690 Tätigkeiten Stundenlöhne von unter 6 Euro existieren. Entscheidenden Einfluss hat dabei die Tatsache, dass die Zahl der Beschäftigten in Unternehmen ohne Tarifbindung stetig wächst.
Was kann nun gegen deren Verarmung getan werden? Das Tarifvertragssystem allein ist schon lange nicht mehr in der Lage, akzeptable Mindestbedingungen sicherzustellen. Es bedarf also zusätzlicher Instrumente, um der Ausbeutung im Billiglohnsektor ein Ende setzen. Ohne eine gesetzliche Garantie von Mindestlöhnen ist diese Erosion nicht zu stoppen.
Diskutiert werden derzeit drei Modelle: Der Mindestlohn wird gesetzlich fixiert, wie das vergleichbar in den EU-Ländern Niederlande, Großbritannien, Frankreich, Irland sowie den USA für die gesamte Wirtschaft geschieht. Einige Gewerkschaften kritisieren, gesetzliche Mindestlöhne könnten das bestehende Lohngefüge insgesamt nach unten verschieben. Dagegen spricht jedoch die Tatsache, dass heute bereits 30 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland, und 45 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland nicht einmal einer Tarifbindung unterliegen!
Zugleich entlastet eine solche Grenzziehung die normale Tarifpolitik. Schließlich haben die Gewerkschaften die neue Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass die Mindestlöhne auch so fest gesetzt werden, dass sie zur Existenzsicherung ausreichen. Wie in Großbritannien müssen die Tarifvertragsparteien dabei beteiligt werden. Dort sind die Gewerkschaften in der „Low Pay Commission“ Mitglied, die zusammen mit den Arbeitgebern und der Wissenschaft jeweils die Höhe der Mindestlöhne überprüft und Empfehlungen zu deren Erhöhung ausspricht.
Ein zweiter Vorschlag lautet: Die Festlegung der Mindestlöhne erfolgt in einer Kombination aus der Politik der Tarifparteien, gekoppelt mit einer gesetzlichen Mindestregulierung. Diese Art der Doppelstrategie gibt es bereits in anderen Bereichen. So wird beispielsweise die Höchstarbeitszeit gesetzlich festgelegt. Die Tarifparteien vereinbaren die Arbeitszeiten, die deutlich unter der Höchstgrenze liegen.
Eine weitere Variante sieht vor, dass die durch die Tarifvertragsparteien fixierten Stundenlöhne vom Gesetzgeber als Mindestlöhne festgeschrieben werden. Diese Regelung gilt für die Bauwirtschaft. Im „Arbeitnehmer-Entsendegesetz“ ist seit 1996 ein Mindestlohn gegen die Billigkonkurrenz vor allem aus Osteuropa festgelegt worden. Derzeit gilt als Untergrenze ein Stundenlohn von 10,36 Euro in Westdeutschland und 8,95 Euro in Ostdeutschland, die Mindestlöhne für Facharbeiter liegen höher (12,47 Euro/ 9,65 Euro). Allerdings deutet sich an, dass wegen des massiven Konkurrenzdrucks die Arbeitgeber der Bauwirtschaft diese Regelung nicht fortschreiben wollen.
Als drittes Modell ist eine von der IG Metall präferierte Variante im Gespräch. Sie zielt darauf ab, den untersten Tariflohn einer Branche durch den Gesetzgeber als Mindestlohn fixieren zu lassen. Dazu soll das „Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen“ von 1952 erweitert werden. Dies setzt einerseits voraus, dass die Tarifvertragsparteien in der Lage sind, sich auf einen angemessenen Mindestlohn zu einigen. Andererseits bleiben von dieser Regelung die nicht tariflich gebundenen Beschäftigten ausgeschlossen. Eine andere, ebenfalls von der IG Metall vorgeschlagene Variante konzentriert sich auf eine vereinfachte Allgemeinverbindlichkeit der unteren Tariflöhne, die damit auch für nicht tariflich gebundene Unternehmen verbindlich sind.
Gemessen an dem riesigen Ausmaß von Billiglöhnen einerseits und dem Verlust an Gestaltungskraft der Tarifpolitik in diesem Bereich andererseits, wird sich eine gesetzliche Fixierung von Mindestlöhnen auf Dauer nicht mehr vermeiden lassen. Zugleich könnte durch diese politische Signalwirkung für alle Beschäftigten im Niedriglohnbereich die „normale“ Tarifpolitik entlastet werden.
Die Gesellschaft kommt deshalb nicht daran vorbei, einen existenzsichernden Mindestlohn zu definieren und am Ende auch zu garantieren. Eine Orientierung bietet die Pfändungsgrenze eines Monatslohns bei 930 Euro. Bei einem Bruttomonatslohn von 1.250 Euro, der netto zu 925 Euro führt, ergibt sich unter der Annahme einer 38,5 Stundenwoche ein Stundenlohn von 7,50 Euro. Um diesen von Ver.di geforderten Mindeststundenlohn bewegen sich die Werte in EU-Ländern mit gesetzlichen Mindestlöhnen (Niederlande bei 37 Stundenwoche 7,89 E, Großbritannien bei 39-Stundenwoche 7,13 Euro, Frankreich 7,61 Euro bei einer 39-Stunden-Woche). Bei einer Realisierung dieses Mindeststundenlohns müssten die Arbeitseinkommen von 2,4 Millionen Beschäftigten angehoben werden, hat der WSI berechnet.
Jetzt ist der Zeitpunkt, zu dem eine intensive Diskussion über die unterschiedlichen Varianten und die endgültige Ausgestaltung dieses Instrumentariums geführt werden sollte. Es geht schließlich um die Begrenzung einer Billiglohnausbeutung, die für die Beschäftigten existenzbedrohlich geworden ist. Würde auf gesetzlich verbürgte Mindestlöhne verzichtet, dann nähme die Billiglohnschicht zu, die aus dem Einkommen durch Erwerbsarbeit ihre Existenz nicht mehr zu sichern vermag. Aber auch der Einfluss der Gewerkschaften auf ordentliche Tariflöhne würde schwer belastet.
Ohne den Schutz von Mindestlöhnen würden Dauerarbeitslose über Hartz IV endgültig in die Armut verbannt – selbst wenn sie als working poor wieder Arbeit finden. Wie internationale Erfahrungen zeigen, sind zur Durchsetzung gesetzlicher Mindestlöhne jedoch unbedingt wirksame Kontrollen erforderlich. RUDOLF HICKEL