: Der Schein trügt
Überlegungen zur Lage und zum Geld
VON GABRIELE GOETTLE
Goethe lässt seinen Mephisto im Faust II den Schöpfungsakt des Papiergeldes mit folgenden Worten begleiten:
„Der Zettel hier ist tausend Kronen wert.
Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand,
Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland.“
Als Vorlage dafür diente ihm der ganz ähnliche Schöpfungsakt des Schotten John Law (1671–1729), der sich sowohl mit Ökonomie beschäftigte als auch ein professioneller Glücksspieler war. In einem Pariser Spielkasino lernte er den Herzog von Orléans kennen, der 1715 Regent von Frankreich wurde und einen Schuldenberg von 2,8 Milliarden Livres vorfand, den der Sonnenkönig hinterlassen hatte. Um den Staatsbankrott zu verhindern, darf Law seine Idee verwirklichen, das erste große Papiergeldexperiment in Europa, ohne Gold- oder Silberdeckung. Zugleich gründete er Kolonialgesellschaften, gab Aktien aus, was zu einem enormen spekulativen Aufschwung führte, der 1720 mit einem großen Bankenskandal und Inflationsdesaster endete. Voltaire bemerkte dazu: „Papiergeld kehrt früher oder später zu seinem inneren Wert zurück – zu null.“
Als Kind von fünf oder sechs Jahren – es war Anfang der 50er Jahre – fand ich im Kleiderschrank meiner Großmutter einen verschnürten Schuhkarton voll mit Geldscheinen. Sie waren gebündelt, bebildert und trugen Wertangaben, die mir nichts sagten. Ich war ganz sicher, einen vergessenen Schatz gefunden zu haben, der nun allen täglichen Sorgen meiner Großmutter ein Ende machen würde. Aber dem war nicht so. Ich erfuhr, dass dieses Geld seinen Wert für immer verloren hat. Aber ich spürte, dass noch irgendeine Magie an ihm haftet. Ich bekam ein paar Bündel zum Spielen und sie landeten, obwohl viel zu groß, in meinem Kaufmannsladen und in der Kinderpost. Damals gab es weder Geld noch Ladenkasse fürs Kinderspiel, die Geste des Bezahlens in die Hand von Kind zu Kind genügte. Viel später erst erfuhr ich, dass ich mit Inflationsgeld aus der Weimarer Zeit gespielt hatte, mit Geld, an dem Geschichten hingen. Ich las, dass man es in Schubkarren transportieren musste zum Schluss, um eine Kleinigkeit kaufen zu können. Vor der Inflation kostete das Dutzend Eier 1 Mark, im Sommer 1923 kostete ein einziges Ei 5.000 Mark und bereits im November unvorstellbare 870 Milliarden Mark. Die Leute besaßen Berge von Banknoten, deren Papierwert höher als die versprochene Kaufkraft war. Geld war vollkommen wert- und nutzlos geworden, damit auch sinnlos.
Aber nicht nur das Geldversprechen war gebrochen, auch die meisten anderen Anwartschaften waren passé, damit Gehälter, Renten, Bank- und Spareinlagen, Lebensversicherungen und auch die von den Deutschen gezeichneten Kriegsanleihen im Wert von 97 Milliarden Mark wurden wertlos (Gewinner war der Staat, nach der Währungsreform betrug seine Kriegsschuld nur noch knapp 16 Pfennige). Die Weltwirtschaftskrise dauerte noch weitere 10 Jahre an, was dann folgte, weiß jeder.
Nun scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Zusammenbrechende Banken, „einbrechende Märkte“ gehören zu den täglichen Nachrichten. Diesmal bin ich Augenzeuge. Ich habe nie ehrlichere Gesichter im Fernsehen gesehen als die der Börsianer nach der Ankunft der Weltwirtschaftskrise bei uns im Oktober 2008. Die blanke „Finanzmarktpanik“ spiegelte sich in ihren Zügen. Man sah es sofort, der Kapitalismus muss ziemlich krank sein. Es ist etwas Ernstes. Die Börsenkurse in freiem Fall, eine Art Profitkrise. Man erfährt von Wertverlusten an der Börse in mehrstelliger Billionenhöhe. Übergangslos. Eine Billion ist eine Zahl mit 12 Nullen. Mehr lässt sich darüber nicht sagen, dennoch wird man sich daran gewöhnen müssen. Die Nullen stehen Schlange bei der Bezifferung der Verluste und des Rettungsbedarfs, den Banken und Wirtschaften geltend machen. Inzwischen wird geradezu darauf gepocht, dass die größte Weltfinanzkrise seit 1929 ausgebrochen sei. Das letzte Mal, als die Welt in eine solche Krise gestürzt wurde, war ihr ein Weltkrieg vorausgegangen. Diesmal so scheint es, leistet das ganz normale moderne Finanzgebaren des Kapitalismus ganze Arbeit, ohne große Schützenhilfe. Wahrscheinlich wird sich diese Krise für viele Menschen dennoch so verheerend wie ein Krieg auswirken, als Erstes in den armen Ländern. Bei uns hingegen soll der drohende Bankrott, so lange es geht, abgewendet werden, mit Hilfe dieser schwindelerregend hohen, noch nie da gewesenen Geldsummen, die selbst von geschulten Funk- und Fernsehsprechern kaum fehlerfrei ausgesprochen werden können. Das ganze Geschehen vollzieht sich wie ein bizarres Bühnenstück vor den Augen der verwirrten Öffentlichkeit. Plötzlich ist Geld da. Geld, von dem man dem Bürger immer versicherte, es sei nicht da, denn hätte sonst der Staat so viele lebensnotwendige öffentliche Einrichtungen an fremde Investoren verkauft?
Es war nicht im Traum zu denken an ein „Rettungspaket“ fürs Gemeinwohl, also für all das, was im Argen liegt, wie Bildung, Gesundheit, Altenpflege, Kultur- und Bibliothekenförderung, öffentliche Bäder, Grundeinkommen. Nun aber ist ein scheinbar unversiegbarer Geldsegen zur Hand für die Stützung „notleidender Banken“ und ihre „faulen Kredite“, für die Stützung von Autokonzernen und „Absatzmärkten“. Deren Belange werden zum Problem des Gemeinwohls erklärt. Es wird geradezu eine drohende Haltung angenommen im Sinne von: Rettet den Kapitalismus, ansonsten rutscht er unters Existenzminimum und alles mit ihm. Die Rede vom „freien Markt“, der sich „selbst reguliert“, von seinen „Selbstheilungskräften“, ist wie weggeblasen. Aber es lässt sich nicht länger verbergen, Finanz- und Wirtschaftseliten, Staranalysten, Manager, Politiker und ihre wirtschaftswissenschaftlichen Berater – international und national – haben die Katastrophe in Kauf genommen. Jetzt aber ist Zahltag, und zwar für uns, die Bürger. Sie beanspruchen die soziale Verpflichtung unseres Eigentums und das von Kindern und Kindeskindern. Sie leben unbeauftragt über unsere Verhältnisse.
Umso mehr soll nun der Eindruck vermittelt werden, dass „umgedacht“ und vor allem etwas getan wird. Verkündet wird in tatenfrischem Tonfall, die Wirtschaft müsse „angekurbelt“ werden. Es ist ständig die Rede vom Ankurbeln. Aber was wird eigentlich heute noch angekurbelt, wer weiß noch, was damit gemeint ist? Die Metapher stammt aus den Anfangszeiten des Automobils, als man es vor der Fahrt noch ankurbeln musste. Sie wurde vom Ökonomen Keynes (1883–1946) gern benutzt. Keynesianer haben Konjunktur seit Oktober 2008. Sogar Karl Marx, von dem seit den 90er-Jahren kaum noch einer ernsthaft zu sprechen wagte, außer jemand wie der britische Sozialwissenschaftler Eric Hobsbawm, wurde wiederentdeckt und schaffte es in die Feuilletons und Wirtschaftsteile seriöser Zeitungen. Seltsames Vokabular griff um sich. Im Manager Magazin wurde zur „Zähmung des Kapitalismus“ aufgerufen, zu „sozialem Anstand“. Andernorts werden die Banken als „systemrelevante“ Geldinstitute bezeichnet (sogar von Enteignung ist die Rede). Mehr noch aber bringt dieses ganze Durcheinander so eine Art betulich betroffenen Leichenbestatterjargon hervor, der vor einiger Zeit noch Lachsalven ausgelöst hätte. Die Wirtschaft muss „begleitet“ werden, „gestützt“. „Ungemach bei Daimler Benz, der Dienstwagenabsatz ist eingebrochen.“ Der Bundespräsident mahnt Ende 2008 in einer Rede vor Bankern zu „mehr Einfühlungsvermögen“ und „Demut“, zu einer „Kultur der Gemeinsamkeit“ und dazu, dass sie das „Gemeinwohl im Auge behalten“. Ebenso könnte man Piranhas um mehr Zartgefühl bitten. Aber all die Maßnahmen, Sprachregelungen und Versuche, die Dinge schönzureden, können doch nicht mehr darüber hinwegtäuschen, was wirklich geschieht. Der Wohlstand im Kartenhaus verflüchtigt sich rapid, alle Ressourcen schwinden, die Energievorräte gehen zur Neige. Die CO2-Werte steigen, im Gegensatz zu den Gewinnen. Und so unübersehbar wie nie ist die Tatsache, dass sich das Kapital in den Händen von immer weniger Menschen akkumuliert.
Die Deutschen besitzen, allein an reinem Geldvermögen, geschätzte 5 Billionen Euro, wovon das reichste Zehntel mehr als zwei Drittel dieses Vermögens besitzt. Und gerade mal 1 Promille der Weltbevölkerung besitzt mehr als ein Viertel des gesamten Vermögens der Welt. 850 Milliarden Menschen hingegen leben in Armut, mehr als 2,2 Milliarden vegetieren unterhalb der Armutsgrenze. Sie haben keinerlei Spielraum für die „zyklischen Schwankungen“. Das ist die wirkliche Weltwirtschaftskrise! Alle Besitzlosen der Welt können dazu ihr eigenes Lied singen, stecken sie doch immer schon und lebenslang in einer Finanzkrise. Für sie waren die guten Zeiten der Reichen so schlecht wie immer. Und während es ihnen schlecht ging, ist das weltweite Vermögen der Finanzprofiteure von 3 Billionen auf 125 Billionen angeschwollen. Aber, so wird erklärt, Fehlspekulation mit amerikanischen „Billigkreditpapieren“ hätten Unsummen wieder verschlungen (Deutschland war übrigens nach China der zweitgrößte Ankäufer). Die Rede ist von „verbranntem“, verloren gegangenem Geld. Aber von dem, was da war, ging ja nichts verloren. Es hat nur die Taschen gewechselt. Es gibt keinen Verlust an der Börse, jeder Verlust ist zugleich ein Gewinn und jeder Gewinn ist ein Verlust, den ein anderer hat. Die wirklichen Verluste realisieren sich außerhalb der Börse, im wirklichen Leben der Opfer der „Immobilienblase“. Am nachdrücklichsten aber erleiden den Verlust diejenigen, deren Arbeitskraft weltweit in den Produktionsstätten der multinationalen Konzerne ausgebeutet wird, die, aus denen in der realen Ökonomie Profit gezogen wird. Die Gewinne werden ja nicht aus dem puren globalen Geldkreislauf geschöpft, jemand muss sie erarbeiten und auch für die Kosten der Verluste bezahlen.
„Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht genug für jedermanns Gier.“ (Mahatma Gandhi)
Es ist zu einer merkwürdig unskandalösen Tatsache geworden, dass die monströsen Geldmengen, die den Globus umkreisen, zu nichts anderem taugen sollen, als zu privatem Reichtum von Geldmessies zu werden. Es scheint kaum noch Gegenentwürfe zu geben. Es gibt Reformmodelle, eine Reihe verschiedener Experimente mit anderen Lebensformen. Oder zum Beispiel auch Versuche, Alternativen zum herkömmlichen Geldsystem zu schaffen, wie etwa der „Freiwirtschaftler“ in der Tradition von Silvio Gesell (1862–1903). Er war rigider Antimarxist. Sein Werk „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“, 1916 erschienen, entwickelt eine auf den ersten Blick bestechende Grundidee zu Zins und Geld, läuft aber auf eine Fortsetzung der Wirtschaft mit anderen Mitteln hinaus, und auf Hierarchie, Konkurrenzkampf, Eigennutz und Auslese der Besten. Freigeld wird heue vermehrt diskutiert, auch mit Verweis auf das berühmte „Wörgler Freigeldexperiment“ von 1932/33. (Während der Weltwirtschaftskrise startete das österreichische Örtchen Wörgl ein Nothilfeprogramm gegen Arbeitslosigkeit und Verschuldung mit eigenem Freigeld, das gedeckt war durch die Landeswährung. Das Experiment war erfolgreich, die Arbeitslosigkeit sank um 25 Prozent. Es sorgte für weltweites Aufsehen, wurde aber durch die Nationalbank gestoppt, die ihr Monopol und die Währungshoheit gefährdet sah.) Auch bei uns gibt es heute, auch in den neuen Bundesländern und besonders in einigen Kommunen Süddeutschlands, Experimente mit zinsfreiem Regionalgeld, das durch ein Verfallsdatum oder Ähnliches vor dem Horten auf der hohen Kante geschützt wird. In Potsdam etwa das Regionalgeld „Havelblüte“. Seit 2002 existiert der „Chiemgauer“ (eine Initiative der Waldorfschule). Es gibt schon seit den 80er-Jahren geldlose Tauschringe und Gutscheinsysteme, die sich in Zeiten der Krise auch als gemischtes System bewähren. Für die Beteiligten sind solche Hilfsmittel segensreich und existenzerleichternd. Und sicher ist es notwendig und gut, andere soziale Umgangsformen einzuüben. Doch das Problem ist, dass das Problem bleibt. Es kann ja nicht nur um menschenwürdige und sozial beglückende Tauschverhältnisse gehen, es geht ja darum, dass sich die Produktions- und Wirtschaftsverhältnisse ändern.
Und so gesehen, hat es letztlich eigentlich auch gar keinen Sinn, sich immer wieder über geldgierige Spekulanten und Banker, überbezahlte Manager, über Politiker, die vor allem als Erntehelfer des Kapitals fungieren, nutzlos aufzuregen. Sie sind ja nicht die Ursache des Problems. Die Ursache ist die Beschaffenheit dieses feindseligen Wirtschafts- und Finanzsystems, mit seinen ausschließlich auf Profitmaximierung und Wachstumszwang ausgerichteten Mechanismen, das zu diesem globalen Kahlfraß führt. Vollkommen unvorstellbar scheint eine Gesellschaft zu sein, in der es weder Profitmaximierung noch Wachstumszwang gibt, weder Banken, Geld, Zinsen, Ware, Preis und Lohnarbeit, weder Bürokratie noch Staat. Einer der wenigen bei uns, dem etwas anderes einfiel als neuer Sozialismus, Kommunismus oder Reform des Bestehenden, ist meines Wissens Robert Kurz. Jenseits von Markt und Staat sieht er die einzig wirkliche Alternative in einer antiautoritären Selbstverwaltung der Gesellschaft in Form eines umfassenden Rätesystems, ohne „Führerprinzip“, ohne Eliten und natürlich in transnationalen Beziehungsformen umfassend organisiert. Ob das gut ginge? Aber vielleicht, so Adorno in der „Minima Moralia“, wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt aus irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen“. Wie aber entsteht diese wahre Gesellschaft? Bisher scheint es so, als sei die Überwindung des Kapitalismus nicht möglich, zu allumfassend wirken sich seine hochentwickelten Herrschaftsstrukturen aus, zu tief hinein in jede Existenz reichen seine Verästelungen. Zu konditioniert sind wir alle, auch auf seine Verlockungen und Tröstungen, die er für uns bereithält. So wie es aussieht, ist der „Griff des im Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“ (Walter Benjamin) bereits überfällig. Der Kapitalismus muss sich vielleicht doch selbst überwinden; als sein eigener Totengräber.
„Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Gehege zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation. Auf dem Fuß folgte der Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem Erdrund als Handelsplatz.“ (Marx im 1. Band des „Kapitals“) Nun, zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint sich diese Ära ihrem Ende zuzuneigen. Vor kurzem wurde eine US-Rakete ins Weltall geschossen, sie soll nach bewohnbaren Planeten suchen. Wir hatten einen.
In Krisenzeiten verändert sich der eingespielte Blick auf die Dinge. Und wenn das Weltfinanzsystem erbebt, natürlich besonders der Blick aufs Geld. Nicht nur auf das eigene, sondern ganz allgemein auf das Phänomen und seine vielfältigen Erscheinungsweisen. Manchmal – eigentlich seit der Einführung des Euros Anfang 2002 – ist mir Geld genauso fremd wie das Inflationsgeld damals in meinem Kinderzimmer. Dabei gibt es doch kaum eine vertrautere Gewohnheit als den täglichen Umgang mit Geld und allem, was damit verbunden ist. Wenn aber der gewohnte Schein und sein Wert durch andere Scheine und Bewertungen ausgetauscht werden kann, ist er plötzlich als „gesetzliches Zahlungsmittel“ kenntlich, als etwas Ephemeres.
Es scheint mir jetzt der richtige Moment zu sein, um dieser Irritation zu folgen und zu fragen, was denn eigentlich Geld ist. Unter Experten, die es ja in der Regel nur als rein funktionales Instrument auffassen, wurde diese Frage vielfach gestellt, bis heute sind sie jedoch zu keinem übereinstimmenden Ergebnis gekommen. Kein einziger kann sagen, was Geld ist. Das liegt daran, dass über Geld nichts Richtiges oder gar Interessantes gesagt werden kann, ohne seine sozialen Erscheinungsformen und Konsequenzen zu berücksichtigen. Karl Marx hat das sehr anschaulich bewiesen. Mit beispielloser Genauigkeit und geradezu kriminalistischem Gespür hat er die Geldform der Waren und die Warenform des Geldes erforscht, eine wirtschafts- und sozialanalytische Untersuchung des Geldes erarbeitet, sein Wesen, seine Bedeutung und seine Auswirkungen erklärt. Auch Georg Simmel (1858–1918), Kulturphilosoph und Mitbegründer der deutschen Soziologie), hat es auf sozialphilosophische Weise bewiesen. Im Jahr 1910 erschien sein Hauptwerk, die „Philosophie des Geldes“, eine kulturkritische Betrachtung der Sozialfunktion des Geldes in der modernen Gesellschaft. Und vergessen möchte ich auch nicht den Philosophen und Geldtheoretiker Alfred Sohn-Rethel (1899–1990), der sich sein Leben lang mit dem Geldphänomen beschäftigt hat und die Marx’sche Analyse der Warenform um die der Denkform erweitert hat. In diesen grundlegenden Texten wird das ganze Panorama unserer Gesellschafts- und Marktverhältnisse kenntlich, der Zwangscharakter des Tauschwerts, die Totalität des Profits als Ziel.
Aber auch die ganz alltäglichen und scheinbar nebensächlichen Erfahrungen mit Geld schärfen den Blick und zeigen, wie sehr es die gesellschaftlichen Verhältnisse prägt. Von klein an wächst die Vorliebe fürs Geld heran, begleitet von der Faszination, die seine Beschaffenheit ausübt. Ich weiß noch genau, wie es war, wenn ich als Kind ein Fünfzigpfennigstück bekam, wie die silbrige Münze schimmernd in der Handfläche lag. Auf der Rückseite war eine kniende Frau zu sehen mit Kopftuch, die gerade eine Eiche pflanzt. Das war ein Schatz, etwas zum Herzeigen, das Eigenschaften und Fähigkeiten verlieh. Dieses Gefühl für die Omnipotenz des Geldes ist prägend. Geld schafft unendlich viele Möglichkeiten des Wohlergehens und vor allem die Wonnen der Wunscherfüllung. Es hat etwas Halluzinatives. Es ist wie im Märchen, wie von Zauberhand nehmen die Dinge Formen an und verwandeln sich in es und es in sie. Scheinbar ohne jede Kraftanstrengung. Kaum vorstellbar, dass es je kein Geld gegeben haben könnte, je keins geben wird. Es ist mit nichts vergleichbar und doch mit allem. Es kommt daher als runde Summe, bare Münze, dicke Batzen, es fällt in den Schoß oder muss mit eigener Hände Arbeit verdient werden. Kurz, es ist da, oder es fehlt. Meist fehlt es. Geld stinkt nicht. Aber es gibt Diensthunde, die können es durch Kisten, Koffer und Autoblech hindurch riechen. Sie schnüffeln bei der Steuerfahndung im grenzüberschreitenden Verkehr nach verstecktem Schwarzgeld und erkennen sogar verschiedene Währungen. Und dann könnte man auch noch fragen, wem gehört eigentlich das Geld? Steht es jedem Bürger zu, quasi als staatliche Dienstleistung? Oder gehört es dem Bürger nicht wirklich, auch wenn er es besitzt? Per Definition ist es eine „öffentliche Einrichtung“, die aber zugleich, weil es eine „bewegliche Sache ist“, in „Eigentum übergehen“ kann. Eines jedenfalls ist geregelt, sein Geld zu vernichten ist nicht mehr strafbar, jeder kann sein Geld bis zur Unkenntlichkeit zerstören. Aber wer möchte das schon, es gilt ja schließlich, es zu vermehren. Wenn alles gut geht, scheint es so, als sei Geld immer verfügbar, diesen Eindruck vermitteln ganz besonders die Kreditkarten. Sie machen es unsichtbar und gestaltlos, zu einem rein elektronischen Prozess. Früher bekamen die Arbeiter ihr Geld in der Lohntüte ausgehändigt, zusammen mit der Abrechnung, einem schmalen weißen Streifen. Nur Bargeld war reales, glaubhaftes Geld. Schecks wurden ausschließlich in den nächsthöheren Klassen ausgestellt. Und auch heute noch gilt: Bargeld ist das einzig reale Geld. Und darüber hinaus ist die Benutzung von Bargeld die letzte und einzige Möglichkeit, anonym zu bezahlen, ohne als Kunde unter ständiger Kontrolle zu sein, wie es beim Scheck- oder Kreditkartengebrauch der Fall ist. Bezahlen, ohne Wartezeit, ohne Unterschrift, ohne Geheimzahl.
Alles ist direkt oder indirekt mit Geld verflochten, von Geld unterwandert, mittels Geld ausdrückbar. Aber es ist nicht nur das scheinbar unschuldige, praktische und unverzichtbare Tauschmittel, als das es uns stets angepriesen wird. Es verursacht ein sehr feines und trennungsscharfes Geflecht der gesellschaftlichen Beziehungen, es formt das Geldsubjekt und seinen Sozialcharakter. „Weil doch nun einmal Geld in der Welt dasjenige ist, was macht, dass ich das Kinn höher trage, freier aufsehe, sicherer auftrete, härter an andere anlaufe.“ (So brachte es Lichtenberg auf den Punkt.) Es gibt kein Entrinnen, alles sinnlich Wahrnehmbare ist in Geldwert umrechenbar, durch Geld in den Besitz zu bringen, sogar weltweit per Order, ohne jede Mühe. Der Reichtum der Waren und Dienstleistungen scheint zum Greifen nah, umringt uns wie ein wohlbekanntes Mobiliar, scheint zu uns zu gehören, sozusagen als Ausstattung einer mitteleuropäischen Gesellschaft. Erst derjenige, dem das Geld fehlt, die Kaufkraft abhandenkam, muss die bittere Erfahrung machen, dass all die Waren und Dienstleistungen nur für denjenigen gedacht und gemacht sind, der dafür bezahlt. Erst das Bezahlen erlaubt die Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. Nichts haben heißt nichts gelten. Das Geld, so Georg Simmel, „ist das absolut Objektive, an dem alles Persönliche endet“. Und darum „hat es auch keine Geschichte in dem Sinne, wie es jedes andere Besitzstück für uns hat“.
Geld gibt den Zeittakt eines jeden Lebens vor, bestimmt, wann jemand morgens aufsteht, wann er abends schlafen geht, es bestimmt, ob man jede Münze zweimal umdrehen, jede kleine Ausgabe abwägen muss oder nicht, was gegessen und getrunken wird, wie viel einer weiß, was er kann, was ihn interessiert. Es ist immer wieder überraschend, wie wenig die sogenannten Besserverdienenden über Geld wissen, sobald es sich um Fragen handelt, die sich außerhalb ihrer Nutzungsgewohnheiten stellen. Der Wert des einzelnen Geldscheins ist zwar amtlich festgelegt, er bedeutet aber für jeden, durch dessen Hände er geht, etwas anderes. Wer aus einfachen Verhältnissen kommt, erfährt früh, dass Geld nur schwer zu beschaffen ist, dass es Mühe kostet, die Tretmühle der Lohnarbeit zu bedienen, um über die Runden zu kommen, vom Verkauf der Arbeitskraft zu leben, sich ständig veräußern und anbieten zu müssen. Und wenn keine Nachfrage besteht, heißt es um Alimentierung ansuchen und sich voll und ganz der bürokratischen Mühle zu unterwerfen. Wer alimentiert wird vom Staat, wirkt in der Verwertungslogik wie tot. „Totes Humankapital“ heißen die Arbeitslosen im Jargon der Deutschen Bank. Und sie haben zur Schmach auch noch den Schaden, dass ihnen miserabel bezahlte Arbeitsleistungen abverlangt werden, denn „kein Geld ohne Gegenleistung“, damit der Arbeitslose nicht verlernt, dass „ohne Fleiß kein Preis“ zu erwarten ist. Dem widerspricht allerdings, dass die höchsten Profite ganz ohne Leistung gemacht werden. Kapitalbesitzer können, ohne moralisch bedenklich zu wirken, ihr Leben lang ohne Arbeit Einkommen erzielen. Arme hingegen müssen ihre geringfügigen Mittel auch noch deklarieren und sich bis in den Kleiderschrank und ins Zahnputzglas hinein kontrollieren lassen. „Es gibt nur eine Gesellschaftsklasse, die mehr an das Geld denkt als die Reichen. Das sind die Armen. die Armen können an nichts anderes denken.“ (Oscar Wilde)
Dass nur der Besitz des notwendigen Scheins das Schlimmste verhindert oder reibungslosen gesellschaftlichen Verkehr erlaubt, ist eigentlich beschämend. Der Schein selbst hingegen wirkt ganz harmlos. Seine materielle Gestalt – die der Euroscheine jedenfalls – zieren nicht mal Herrschaftssymbole, sieben Scheine, sieben Bilder verschiedener Epochen und Baustile in Europa. Noch nie sah Geld so uninteressant aus. Aber Geld ist anonym. Sein innerer Wert sitzt tiefer als Aufdruck und Prägung. Man sieht ihm die Herrschaft nicht an, die in ihm verborgen ist, das gesellschaftliche Gewaltverhältnis und die ihm unterworfene gesellschaftliche Arbeit mit all ihren Mühen. Genau das aber macht den Wert und die Macht des Geldes aus. Die wesentlichste Auswirkung des Geldes ist seine Funktionsweise als Zwangsmittel des sozialen Austauschs, als totalitäres Prinzip. Deshalb kann man sagen: Jedes Geld ist Schweigegeld. Jeder hört in seinem Knistern den bedrohlichen Unterton.
Dies ist zugleich die Einleitung zu einer neuen Porträtserie über das Geld. Es gibt viele interessante Geldgeschichten zu erzählen, und angesichts der sich verschlechternden Lage werden sie auch etwas vermitteln über die Zeit und die Gesellschaft, in der wir leben.