: Der Sarg als Reisekoffer
Seine Bauten verkörpern „die Kontinuität der Moderne“: Die Städtische Galerie Karlsruhe ehrt den Architekten Egon Eiermann zum 100. Geburtstag mit der bislang umfangreichsten Retrospektive
VON GABRIELE HOFFMANN
Unmissverständlich erklärte Egon Eiermann seine Abneigung gegen das Bewahren: „Das, was wir bauen, erhebt gar nicht den Anspruch, altern zu wollen oder Patina anzusetzen.“ Und nun ist ausgerechnet ihm eine Gedächtnisausstellung gewidmet, die die Städtische Galerie Karlsruhe zusammen mit dem Südwestdeutschen Archiv für Architektur an der Universität Karlsruhe und dem Bauhaus-Archiv in Berlin zu seinem 100. Geburtstag organisierte. Es ist die erste Gesamtschau zu seinem Leben und Werk. Und interessant: Er ist wirklich nicht gealtert. Auf seinen Hockern und Stühlen sitzt es sich jedenfalls zeitlos modern.
Doch zunächst gilt es die Ausstellungsarchitektur von Walter Nägeli zu loben. 450 Exponate hat er in gut überschaubare Zusammenhänge gebracht. Jeweils aus einem großformatigen Foto, einer Pultvitrine mit Originalplänen, Handskizzen, Briefen und historischen Fotografien, sowie einem originalen oder eigens für die Schau gefertigten Modellbau bestehen die Architekturporträts zu 28 Höhepunkten in Eiermanns Werk.
Nach dem Abschluss seines Architekturstudiums an der TH Berlin, wo er zuletzt Meisterschüler von Hans Poelzig war, ließ sich Eiermann 1930 als freier Architekt in Berlin nieder. Viel Zeit für wirklich freie Arbeit bleibt ihm nicht. Die NS-Diktatur mit ihren gegen das Neue Bauen gerichteten Vorstellungen von „anständiger Baugesinnung“ verlangte eine Entscheidung. Eiermann erkennt, dass er nur im Industriebau aufgrund der geforderten Funktionalität an einem modernen Stil festhalten kann. Industriebauten verlangten weder moralisches noch ästhetisches Einknicken. Trotzdem baut er bis 1936 noch Wohnhäuser im Berliner Westen. Auch wenn schon mal ein Entwurf wegen der „nicht bodenständigen Lösung“ abgelehnt wird, lässt man ihm beim Haus Vollberg den mehrflügeligen Flachbau mit Wellzementdach durchgehen.
Bezeichnend für Eiermanns Stil ist die Verbindung von Einfachheit und Klarheit. Unter seinen Verwaltungsbauten gebührt der Anlage des Versandhauses Neckermann in Frankfurt der erste Platz. Der 257 Meter lange Hauptbau gliedert sich in einen sechsgeschossigen verglasten Mittelteil und turmartig vortretende Eckbauten. Zu den Markenzeichen Eiermanns gehören die begehbaren Umgänge vor jedem Stockwerk. Sie unterstreichen die beherrschende Horizontale, die von zwei vorgesetzten diagonalen Außentreppen unterbrochen wird.
Weniger Fortune hatte Eiermann als Kaufhausarchitekt. Nach dem gelungenen Kaufhaus Merkur in Reutlingen beginnt die Katastrophe in Stuttgart damit, dass er tatenlos dem Abriss des 1927/28 von Mendelsohn erbauten Kaufhauses Schocken zusieht. Und sie endet in seiner Zustimmung zu einer Fassade aus Keramikformsteinen, die dem Neubau vorgesetzt wird und seinem Architekturdenken diametral entgegengesetzt ist.
Dass dem deutschen Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung 1958 vor dem Hintergrund der jüngsten Vergangenheit besondere Aufmerksamkeit zuteil würde, war vorauszusehen. Egon Eiermann und sein Partner Sepp Ruf nahmen das Motto „Bilanz für eine menschlichere Welt“ sehr ernst. Auf dem ihnen zugewiesenen Hanggelände im königlichen Park Laeken errichteten sie eine Kette von acht durch Stege verbundenen Pavillons um den alten Baumbestand herum. Die technisch begründete Konstruktion, leicht und transparent, war Punkt für Punkt die Absage an die Erinnerung einer auftrumpfenden NS-Architektur.
Das weltweit positive Echo beschert Eiermann kurz darauf den Auftrag zum Bau der Kanzlei der Deutschen Botschaft in Washington. Auf das ihm zugewiesene Hanggrundstück stellt er ein Terrassenhaus, das es ihm erlaubt, dem Prinzip der Verbindung von Außen und Innen, von „Gebautem und Gewachsenem“ durch eine verstärkte Begrünung höchste Priorität zu geben. Eiermann, seit 1947 Professor an der Karlsruher Universität, folgte strengen Regeln bei seinen Entwürfen, bei der Realisierung gestattete er sich mehr Flexibilität, wie die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin zeigt.
Mit seinem ersten Entwurf verlangte er den Abriss der Turmruine, die er nicht als Mahnmal, sondern als „Steinhaufen“ wertete. Am Ende gab er der Berliner Bevölkerung nach, die die Einbeziehung des alten Turms verlangte. Das überarbeitete Projekt der „Kircheninsel“ brachte die Ruine und die vier Neubauten – in Stahlskelettkonstruktion mit einer gerasterten Außenwand aus Betonwaben und zum Teil farbigem Dickglas – in einen Distanz wahrenden Zusammenhang. Mit der leuchtenden Wand zitiert Eiermann seine 1951–1953 errichtete Matthäuskirche in Pforzheim, die bis in die Innenausstattung eine neue Phase moderner Kirchenbaukunst eingeleitet hatte.
Dass es neben dem erfolgreichen Architekten auch den erfolgreichen Designer Egon Eiermann gab, ist in Karlsruhe ein eigenes Thema. Sein dreibeiniger Sperrholzstuhl SE 42 wurde sogar für ein Produkt von Ray und Charles Eames gehalten. Ganz im Unterschied zur Architektur, die er völlig frei von organischen Formen hielt, gehörten plastisch gestaltete Sitzmöbel aus Formsperrholz und Kunststoff zu seinem Kanon. Eiermanns Gestaltungswille machte selbst vor dem Sarg nicht halt, dem er die ganz unsentimentale Form eines Reisekoffers gab.
Bis 9. November, Katalog (Hatje Cantz Verlag) 24 €