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Archiv-Artikel

Mein Haus, mein Job, meine Stadt

„Hätten wir es woanders so schnell geschafft? Ich glaube nicht.“

aus Allentown MICHAEL STRECK

Es ist das einzige Haus in der Straße, dessen Tür weit offen steht. Jacob Kilikpo sitzt barfuß auf einem alten grauen Sofa, so als ob er hier nie wieder weg wollte. Gott hat ihn und seine Familie vor Tod und Elend gerettet und aus dem chaotischen Westafrika nach einer langen Odyssee in die Berge von Pennsylvania, die sterbende Stahlstadt Allentown mit ihren 80.000 Einwohnern, verpflanzt. Sein zweigeschossiges Reihenhaus könnte zwar eine Grundsanierung vertragen. Doch er ist glücklich. „Es ist hier so friedlich und sicher. Wir müssen nicht mehr wegrennen.“

Kilikpo, 61 Jahre alt, floh mit seiner Frau, sieben Kindern und einer Nichte 1991 vor dem Bürgerkrieg in Liberia in die Elfenbeinküste. Dort arbeiteten sie als Tagelöhner, bettelten, gaben Englischunterricht und erhielten gelegentlich Schecks ausgewanderter Verwandter. Seine alten Berufe, Radiojournalist und Laienprediger, konnte er im französischsprachigen Nachbarland nicht ausüben. Zweimal versuchten sie zurückzukehren, zweimal flohen sie erneut.

Er ist sauer auf Clinton, der nichts gegen das Morden in seiner Heimat unternahm, und hält Bush zugute, sein Land wenigstens nicht ganz ignoriert zu haben. An der fleckigen Wand hängt ein Plakat mit allen Präsidenten Liberias. Die Möbel sind Spenden. Eine riesige neue Fernsehanlage ist wie ein Altar in einer Wohnzimmerecke aufgebaut. Die Söhne, Töchter und deren Freunde kommen und gehen. Kilikpos kräftige Stimme zittert ein wenig, verrät aber immer noch seine berufliche Vergangenheit. Zufrieden erzählt er, dass alle seine Kinder bereits einen Job gefunden oder eine Ausbildung angefangen haben. „Dabei haben es selbst Amerikaner momentan schwer, Arbeit zu bekommen“, sagt er.

Zique, mit 34 Jahren sein ältester Sohn, hat sich zu ihm auf das Sofa gesetzt, bevor er zum Schichtdienst in den Supermarkt muss. Er trägt die neueste Kollektion aus dem „Footlocker“-Store, spricht fließend Englisch und macht den Eindruck, er hätte schon immer hier gelebt. Zique war der Kundschafter für die Familie in der neuen Welt.

Irgendwie gelang es ihm 1999 in die USA einzureisen, nachdem alles verfügbare Geld für ein Ticket zusammengekratzt wurde. Er fand bei einer Tante in Philadelphia Unterschlupf, arbeitete in Restaurants und schickte Dollars in die Elfenbeinküste. Nachdem auch dort der Bürgerkrieg ausbrach, konnte er seinen Vater schließlich davon überzeugen, im UNO-Büro in Abidjan Asyl in den USA zu beantragen. Es folgten zwei Jahre Papierkrieg, medizinische Tests und Interviews mit US-Einwanderungsbeamten, bis er im Februar 2001 ein Dokument unterzeichnen konnte, dass er das Geld für die erhaltenen Flugscheine zurückbezahlen werde, sobald Familienmitglieder Arbeit in den USA gefunden hätten und ihm das seine neue Heimat mitteilte: Allentown.

Bei der Ankunft auf dem Provinzflughafen schneite es. Kilikpo war froh und zugleich beklemmt, erinnert er sich. Doch ein Begrüßungskomitee, Freiwillige des katholischen Flüchtlingsprogramms, wartete mit Blumen auf sie. „Das hätte ich nie erwartet, einen solch warmen Empfang“, sagt er. Ein eigenes Haus war für sie angemietet, es gab Lebensmittelmarken, 400 Dollar pro Familienmitglied und eine staatliche Krankenversicherung. Drei Monate lang übernimmt der Staat diese Anfangsrundumversorgung, dann müssen die Flüchtlinge auf eigenen Füßen stehen. Das Leben ist hart hier, das weiß auch Kilikpo. „Aber niemand dringt mehr in mein Haus ein und will meine Frau und Kinder verschleppen.“

Amerika ist sicher, doch fremd. Er wundert sich, warum Leute, denen er schon einmal begegnet ist, die ihn Freund nennen, auf der Straße an ihm vorbeieilen, nicht kurz stehen bleiben und ein paar Worte wechseln. „Die Menschen sind so sehr mit sich selbst beschäftigt“, sagt er. Irgendwann hatte er die falschen Freunde satt. Er klopfte gegenüber an einer Tür, stellte sich als der neue Nachbar vor, der dieses Ritual von zu Hause so kennen würde, und siehe da, er wurde hineingebeten. Seither besucht er den Nachbarn regelmäßig. „Bob ist nun mein richtiger Freund.“

Besonders absurd empfindet er das Verhältnis zu den Afroamerikanern. Die seien zu stolz, unnahbar und vermittelten einem das Gefühl, bessere Schwarze zu sein. „Mit Weißen gibt es überhaupt keine Probleme.“ Letztlich beschränkt sich das Leben auf die eigene Familie, andere liberianische Einwanderer in der nahen Umgebung und die Kirche.

Die katholische Diözese von Allentown ist nicht nur Heimat von tief gläubigen Nachfahren deutscher und holländischer Einwanderer, sondern de facto auch das Sozialamt der Stadt. Sie betreibt ein besonders gelobtes Aufnahmeprogramm für Flüchtlinge. Direktor Will Miller organisiert am Telefon die letzten Details für die Ankunft von drei neuen Familien aus Liberia. Seine grauen Haaren sträuben sich wie elektrisiert. Er kümmert sich um Wohnungen, Schulplätze, hilft bei der Jobvermittlung, beim Kampf mit den Behörden, aber auch mit psychologischer Beratung. Die Flüchtlingsversorgung vor Ort nach der Anschubfinanzierung wird aus der Kirchenkasse bezahlt und liegt auf den Schultern Freiwilliger. Die US-Regierung bezuschusst lediglich die Büros der lokalen Programmbetreiber. „Die Infrastruktur für Flüchtingsumsiedlung bricht gerade zusammen“, sagt Miller. Seit die Behörden nach dem 11. September die Tore für Flüchtlinge fast geschlossen haben, fließt auch für kirchliche Sozialdienste kaum noch Geld, obwohl sie den Hauptanteil der Asylsuchenden betreuen. Jährlich nehme Allentown nur noch rund 80 Flüchtlinge auf, vorher waren es 140. So schickte die Katholische Bischofskonferenz Hollywood-Produzenten hierher, um einen Film zu drehen, der Flüchtlingsumsiedlung propagiert. Will Miller kam zu seiner ersten Filmrolle.

Allentown kennt in den USA eigentlich jeder, seit Billy Joel der Stadt in den 80er-Jahren mit seinem Hit „Allentown“ zur Pop-Ehre verhalf. Damals war sie noch ein blühender Industriestandort, mit den bedeutendsten Stahlwerken im Land. Vergangenes Jahr wurde die letzte Fabrik stillgelegt. Die schwierige wirtschaftliche Situation hat jedoch nicht dazu geführt, dass den Neuankömmlingen Missgunst und Ablehnung entgegenschlägt, erzählt Miller. Zwar berichtet die Presse gelegentlich über meuternde Bürger im Land, die sich gegen die Ansiedlung somalischer Familien von Bantustämmen wehren, die im „American Way of Life“ noch unerfahren sind. Dieses neue und eher unamerikanische Phänomen bleibt jedoch die Ausnahme. Die Flüchtlinge, die bislang nach Allentown kamen, stammen aus Vietnam, Kuba, Bosnien und Liberia und haben in ihrem Leben zumeist auch schon Spültoiletten, Duschen und Kühlschränke gesehen, sind keine von weißen Vorstadtamerikanern empfundene „Fremdkörper“, die ihre Wäsche in Parks aufhängen und Straßenbäume für Brennholz fällen wollen. Nein, Ärger gibt es hier keinen. Im Gegenteil, es sei erstaunlich, wie schnell die Flüchtlinge aufgenommen würden. „Nach sechs Monaten haben fast alle bei uns eine Arbeit“, sagt Miller. Das ist Gradmesser für den Erfolg.

„Das hätte ich nie erwartet, einen solch warmen Empfang“

Manche finden nicht nur einen schlecht bezahlten „McJob“, sondern haben Glück, wieder in ihren alten Beruf einzusteigen. Nach Jahren ist Zeljko Maric endlich wieder Ingenieur. Der 41-jährige stämmige Kroate lebt mit seiner Frau Almira, die als Grundschullehrerin arbeitet, Tochter und Sohn eine halbe Autostunde außerhalb von Allentown. Im Winter 2001 kamen sie mit acht Reisetaschen hier an. Ein Jahr später haben sie sich das Reihenhaus gekauft, am Wochenende soll der Zweitwagen vor der Tür stehen. „Wir leben den amerikanischen Traum“, sagt er stolz in noch gebrochenem Englisch. In bereits zwei Jahren könnten sie die US-Staatsbürgerschaft erhalten.

Maric verweigerte sich im bosnischen Mostar dem Krieg. „Meine Familie ist aus allen Teilen Jugoslawiens gemischt. Ich konnte nicht verstehen, wie sich Brüder gegenseitig umbringen.“ Er floh mit Almira zu Verwandten nach Kroatien, wo sie acht Jahre als Flüchtlinge lebten. 1998 kehrten sie zurück und erfuhren, dass ihr Haus von Umsiedlern besetzt war. „Alles war fremd. Jeder war misstrauisch. Eine schreckliche Atmosphäre.“ Sie beschlossen, über eine Flüchtlingsorganisation in Zagreb um Asyl in den USA zu ersuchen. „Unsere Kinder sollten nicht in einer Umgebung aufwachsen, wo jeder über die Religion und Volksgruppe definiert wird, sondern in einer toleranten Nachbarschaft“, sagt sie.

Vierzehn Monate mussten sie auf die ersehnte Nachricht aus dem US-Außenministerium warten. Jetzt kriegt Zeljko und Almira niemand mehr nach Bosnien zurück, auch wenn sie die vollen Restaurants um Mitternacht, das Leben auf der Straße und Freunde vermissen. „Hier verkriechen sich alle nach Feierabend in ihren Häusern und fahren zum Briefkasten mit dem Auto.“ Ob sie je daran gedacht hatten, woanders Zuflucht zu suchen? Zeljko verneint. „Hätten wir es jemals woanders so schnell so weit geschafft? Ich glaube nicht.“

Für Jacob Kilikpo gab es auch keine Alternative zu Amerika. Das Land, das die Gründung seiner Heimat erst ermöglichte, sie dann jedoch vergaß, hat sich jetzt verpflichtet, liberianische Flüchtlinge bevorzugt aufzunehmen. Wahrscheinlich ist er nur deshalb hier. Nun will er auch den US-Pass, doch nicht, um für immer zu bleiben, sondern irgendwann unkomplizierter nach Liberia zurückzureisen. „Am Ende ist nichts so wie die Heimat.“