: Ehrgeiz, ungestillt
Gunda Niemann-Stirnemann hat alles gewonnen, was es im Eisschnelllauf zu gewinnen gibt. Doch das reicht ihr nicht. Nach einer Babypause von fast 1.000 Tagen läuft die 37-Jährige wieder Rennen
von MARKUS VÖLKER
Gewonnen hat sie schon wieder. Bei einem Testwettkampf in Erfurt belegte Gunda Niemann-Stirnemann Platz eins. Sie erprobte ihre Leistungsfähigkeit über 3.000 Meter und lief nach 4:14,45 Minuten ins Ziel. In Berlin war Claudia Pechstein allerdings drei Sekunden schneller. Den Sieg im Fernduell nahm Pechstein zum Anlass, die Rivalität mit der Rückkehrerin zu schüren: „An ihrer Stelle hätte ich nicht wieder angefangen“, sagte Pechstein. Und: „Wenn ich ihre Zeiten höre, brauche ich mir keine Sorgen zu machen.“
Die Saison ist eröffnet. Es darf wieder gezickt werden. Auf einer Pressekonferenz am Montag, zu der Gunda Niemann im weißen Kostüm erschien und nicht, wie zu solchen Anlässen üblich, von einem Moderator befragt wurde, sondern von Ehemann Oliver Stirnemann – wofür einige Beobachter das Prädikat „comedyreif“ vergaben –, antwortete Niemann ihrer Berliner Konkurrentin: „Die Bemerkungen von Claudia Pechstein ignoriere ich.“ Denn: „Ich will nicht nach links und rechts schauen und mich nur auf mich selbst konzentrieren.“
Bei den deutschen Meisterschaften der Eisschnellläufer in Erfurt hat sie an diesem Wochenende Gelegenheit dazu. Sie wird nach einer Pause von fast 1.000 Tagen wieder Meisterschaftsrennen bestreiten. Am 4. März 2001 startete sie letztmalig, in Calgary. Sie kommt 17 Monate nach der Geburt ihrer Tochter Victoria zurück aufs Eis. Niemann ist 37 Jahre alt. Die Sponsoren sind ihr treu geblieben, einer ist sogar neu dazugekommen.
Niemann hat eigentlich alles erreicht. Sie ist dreimal Olympiasiegerin geworden, kann auf 98 Weltcup-Siege blicken, hat 16 Weltrekorde aufgestellt und 19 Weltmeisterschafts-Titel gewonnen. Das sollte für eine Karriere reichen, doch offenbar ist Niemanns Ehrgeiz noch nicht gestillt. Recht früh nach der Niederkunft traf sie die Entscheidung, es noch mal probieren zu wollen. Von einem „positiven Kribbeln im Bauch“ sprach sie damals. Als sie zum ersten Mal nach der Unterbrechung mit Klappschlittschuhen unterwegs war auf dem Oval, berichtete sie: „Nach der ersten Runde haben mir dermaßen die Beine gezittert und gebrannt, dass ich mir gesagt habe: Mein Gott, Gunda, du musst noch sehr viel tun.“
Eine Mischung aus Entwöhnung von jahrelanger Praxis und innerer Getriebenheit ist es wohl, die zum Comeback geführt hat, eine Rückkehr, für die sie sich seit diesem Frühjahr intensiv gequält hat. Tausende von Kilometern hat sie mit dem Rad und auf Rollschuhen absolviert, das Baby immer dabei, betreut von einem Kindermädchen. Die Arbeit mit dem eingerosteten Körper fiel ihr nicht leicht. „Immer wenn es schwer wird, kommt dieser eine Gedanke: Warum machst du das“, bekannte sie im September. Hinzu kamen Verletzungen. Beim Einstieg ins härtere Training im Winter entzündeten sich die Achillessehnen. Dann zwackte der Oberschenkel. Erst litt sie unter einer Zerrung, später, im August, spielte der Beuger im Oberschenkel nicht mehr mit. Sie musste dem Alter und der schwindenden Belastbarkeit Tribut zollen. Fünf Wochen verlor sie in dieser Phase. Sie musste sich sogar in einer Reha-Klinik am Chiemsee behandeln lassen. Zuletzt war es eine Zahnentzündung, die sie etwas zurückwarf bei ihrem Versuch, an alte Zeiten anzuknüpfen.
„Es ist alles komplizierter geworden“, sagt ihr Trainer Klaus Ebert. „Es geht nicht mehr so leicht von der Hand wie früher.“ Mehr Zeit hätten sie sich nehmen müssen, Trainer und Athletin, um den Organismus an die Höchstbelastung zu gewöhnen. „Aber wir sind noch nicht ganz so weit“, sagt der Coach, „die Rückstände sind nicht zu übersehen.“
Es geht in Erfurt nun darum, dass sich Niemann für den Weltcup über 3.000 und 5.000 Meter qualifiziert. Jeweils ein Startplatz ist noch frei. „Ich erwarte, dass sie das schafft“, hofft Ebert. Mehr, ein Sieg etwa, sei derzeit nicht möglich. „Sie muss sich erst wieder an die Weltspitze herankämpfen, sich die Wettkampfhärte zurückholen.“ Auch Oliver Stirnemann mahnt, die Öffentlichkeit solle keine „Fantasievorstellungen“ entwickeln. Seine Frau kündigt an, sie wolle das Eislaufen wieder genießen; weg vom Geschehen sei sie ohnehin nie gewesen, da sie für das ZDF Rennen kommentierte. „Mein Gefühl sagt mir, dass ich zurückkommen werde.“
Im Eisschnellauf hat es Comebacks nach einer Babypause schon mehrfach gegeben. Karin Kania-Enke wurde als Mutter dreimal Weltmeisterin, Christa Rothenburger-Luding gewann bei Olympia eine Bronzemedaille. Beide waren freilich jünger als Niemann. Die kann indes auf eine „besondere Physis“ vertrauen, wie Verbandsarzt Volker Smasal berichtet: „Sie kann unheimlich viel trainieren. Wenn andere Einkehr ins Hotel halten, dann fährt sie noch mit dem Rad über einen Pass.“ Auch sinke die Ausdauerleistung im Alter von 37 nur unwesentlich. Dennoch: „Sie wird nicht mehr der Dominator werden wie einst“, prophezeit Smasal, glaubt aber, dass ihr „vereinzelte Spitzenleistungen“ gelingen könnten. Vielleicht bei der Einzelstrecken-WM in Seoul im März. Dort will Gunda Niemann-Stirnemann ganz vorn landen. Claudia Pechstein will den Plan, das hat sie bereits angekündigt, durchkreuzen.
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