: Alice im Gruselland
Zum Spaß gehört die Melancholie: Auf dem Freimarkt spürt man dies zu keiner Zeit so gut, wie um acht Uhr morgens. Dann nämlich liegen die Akteure zu Hause in ihren Betten und die einsamen Buden werden im Zwielicht zu einem bizarren Labyrinth
Nachts um zwei ist der Bremer Freimarkt eine fremde Welt – es fällt schwer, sich zurechtzufinden, ohne die bunten Glühbirnen und die Lockrufe aus den Lautsprechern. Die heruntergelassenen Rolläden der Buden verheimlichen beharrlich ihr Innenleben.
Nur die Nase kann noch flüchtige Hinweise erhaschen: Hier ein zarter Hauch von gebrannten Mandeln, dort der würzige Duft von Champignons, oft überlagert vom bleiernen Geruch des Bieres. Durch die Leere in den Gassen werden der Wind und die Kälte wieder spürbar. Irgendwo grölt ein Mann „Viva Colonia“. Dann Stille. Ein Streifzug durch ein bizarres Labyrinth: Die Pfosten des „Breakdancer“ sehen aus wie ein Beet voll Blumen, die Metallkörper der erstarrten Karusselle wirken wie riesige Pilze. Alice im Gruselland.
Um diese Zeit sind die Schausteller längst zu Bett gegangen. So auch Christian Müller, der am frühen Abend noch als Graf Dracula in der Geisterbahn mit den Live-Darstellern für Schrecken sorgte. Mit weißgeschminktem Gesicht und blutroten Lippen machte er seinen Job und es schien ihm Spaß zu machen, wie er mit gemessenem Schritt über das Pflaster des Freimarkts wandelte, um frische Hälse in die Geisterbahn zu locken. Ein Kindheitstraum sei diese Arbeit für ihn, sagt er, aber auch Knochenarbeit: Das Abbauen der Geräte im Regen, der Konkurrenzkampf unter den Betreibern, der Einsatz sieben Tage die Woche, oft 14 Stunden am Tag.
Ähnlich vereinnahmend ist die Arbeit auf dem Freimarkt für die Unterhaltungsband Free Steps. Gegen zehn Uhr abends hatten sie im Hansazelt ihr zweites Set abgespielt, machten Pause, kurz nur im Backstage-Bereich hinter dem Zelt. Dort steht für die Free Steps ein Container mit Holzklappstühlen, weinrotem Teppich, ohne Fenster. Drinnen im Container machten sie ein paar Witze während draußen dem Bassisten der Band der Kragen platze: Streit mit der Security, weil diese die Freundinnen der Musiker nicht hinter die Bühne lassen wollte.
Klar, der Freimarkt hat Schattenseiten: Fröhlichkeit, Traurigkeit, das Janusgesicht des Showgeschäfts. Auf dem Freimarkt spürt man dies zu keiner Zeit so gut, wie um acht Uhr morgens. Im blassen Licht der Sonne erscheint die bunte Budenstadt halb als Glitzerwelt, halb als Geisterstadt: Gegenüber dem Bayernzelt kriecht ein Obdachloser auf dem Boden. Er langt mit dem Arm unter den Süßwarenstand, um verlorenes Geld aufzusammeln – findet aber nur ein paar Cent. Es ist die Stunde der Lieferwagen und der Hunde, die das Eindringen eines Fremden in ihr Revier missmutig bekläffen. Ein Schwarm Möwen versucht, den Müllmännern zuvor zu kommen.
Erst allmählich kehrt wieder Leben ein. Die Schausteller treffen sich zum Morgenschwätzchen oder fegen vor ihren Ständen. Der Losverkäufer der „Goldenen 7“ hat schon angefangen die Hauptpreise aufzubauen. Mit Stricken um den Hals baumeln die riesigen Teddybären am Vordach. Im Morgenlicht erinnert das unweigerlich an eine Exekution. Ein neuer Freimarkt-Tag beginnt. Tim Ackermann
Der Bremer Freimarkt dauert noch bis einschließlich 2. November.