: John F. Kerry kehrt zurück
Drei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen hat Herausforderer Kerry mit Präsident Bush wieder gleichgezogen. Er punktete in den TV-Debatten
AUS WASHINGTONMICHAEL STRECK
Sollte der Lone Star Iconoclast ein Omen für den Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahlen sein? Die kleine Wochenzeitung aus George W. Bushs Wahlheimat Crawford in Texas gab am Mittwoch, just dem Tag der letzten TV-Debatte, einen Hinweis darauf, dass die Dinge derzeit nicht rund laufen für den Präsidenten.
Die Zeitung unterstützte – ein fast unerhörter Vorgang – öffentlich den Demokraten John Kerry. Die Entscheidung aus dem fernen Texas hallte bis ins ferne Washington wider. Vor vier Jahren hatte das Blatt noch seinen Landsmann favorisiert.
Bushs Heimatzeitung steht mit ihrem Votum nicht allein. Bislang haben sich dem Magazin The Nation zufolge weit mehr Zeitungen für eine Wahl Kerrys ausgesprochen. Sie signalisieren damit eine Trendwende in der Wählermeinung seit dem ersten TV-Duell vor zwei Wochen: Das Comeback des abgeschlagen geglaubten Mister Kerry.
Der Senator aus Massachusetts war damit insgesamt erfolgreicher als Bush. Er schaffte es endlich, sich als wählbare Alternative zum Amtsinhaber zu verkaufen. Oft trat er dabei präsidialer auf als der Präsident selbst, der sich, nach einem Fünf-Wochen-Ritt auf der Popularitätswelle, auf einmal in der Defensive wiederfand. Kerry wurde seinem Ruf gerecht, im Endspurt immer besser zu werden.
Glaubt man den ersten Reaktionen auf die dritte Debatte, trug er auch diesmal einen Punktsieg nach Hause. Das verwundert insofern nicht, als es um „Brot-und-Butter-Themen“ ging wie Jobs, Sozialversicherung und Schulausbildung, die Wähler gewöhnlich am meisten interessieren und oft ein Heimspiel für Demokraten sind. Doch dies ist die erste Wahl nach dem „11. September“ und Außenpolitik ist erstmals seit dem Vietnamkrieg mindestens so wichtig wie Innenpolitik. Immer wieder bekräftigen die Kontrahenten daher ihre gegensätzlichen Positionen zum Irakkrieg und zur Rolle Amerikas in der Welt.
Bush trat auf mit einer veränderten Angriffsstrategie. Monatelang hatte er versucht, Kerry als wankelmütigen Opportunisten zu brandmarken, dem man in stürmischen Kriegszeiten kein Land anvertrauen könne. Nun wurde das „L-Wort“ gegen ihn in Stellung gebracht. Kerry sei der „Liberale“ aus Neuengland, ein Linksaußen, der zu Hause die Steuern erhöhen will, auf staatliche Bevormundung setze und Amerikas Schicksal in die Hände der UNO legen werde.
Kerry schlug Bush die Bilanz seiner Amtszeit um die Ohren: Er sei der erste Präsident seit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren, unter dem Arbeitsplätze verloren gehen. Zudem habe er explodierende Gesundheits- und Schulkosten, ein ausuferndes Haushaltsdefizit, zunehmende Armut und die Erosion der Mittelschicht zu verantworten. Einer seiner zentralen Pläne ist, durch eine umfassende Reform der Krankenversicherung alle Kinder und den Großteil der Erwachsenen abzusichern. Finanzieren will er das Projekt durch die Rücknahme der von Bush durchgesetzten Steuersenkungen für Reiche. Zudem versprach Kerry, den Mindestlohn von derzeit fünf auf sieben Dollar anzuheben.
Entgegen der landläufigen Meinung, bei den TV-Debatten gehe es mehr um Charakterfragen als um den Inhalt, nannten Kommentatoren wie George Will von der Washington Post die Debatte „substanziell“. Niemand könne nun noch sagen, unentschlossen zu sein. Mittwochnacht machte erneut deutlich: Amerika hat am zweiten November eine klare Wahl – zwischen der Privatisierung von Sozial- und Krankenversicherung, weiteren Steuersenkungen für Wohlhabende sowie einer Außenpolitik Marke „Go it alone“ auf der einen und Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen, die durch eine stärkere Belastung Besserverdienender finanziert werden, sowie einer Außenpolitik, die Allianzen wertschätzt, auf der anderen Seite.
Auch im Auftreten gab es das bekannte Bild. Kerrys Angriffe waren konstruktiver und sachlicher. Er präsentierte seine Argumente wie ein Rechtsanwalt im Gerichtssaal, sprach überzeugender und konnte komplexere Themen anschaulicher darstellen. Manche Seitenhiebe konterte er souverän mit Humor. Bush, der Kerry beim Reden oft anschaute, als ob er die Zusammenhänge nicht versteht, rang in seinen Reaktionen nach Worten und wechselte rasch auf seine eingeimpften Einzeiler.
Über die Gründe für Bushs insgesamt schlechteres Abschneiden wurde in den vergangenen Tagen viel gegrübelt. Beobachter glauben, nunmehr räche sich, dass er im Umgang mit Widerspruch so ungeübt sei. Pressescheu wie er ist, weiche er stets unbequemen Fragen von Journalisten aus. Bei öffentlichen Auftritten werde sorgfältig ein wohlgesonnenes Publikum ausgewählt. Kerry hingegen stellt sich der Kritik, es macht ihm geradezu Spaß zu argumentieren.
Vielleicht war daher der erhellendste Moment während der Debatte jener, als beide über ihr Verhältnis zur Religion sprachen. Bush zieht aus seinem Glauben Bestätigung für sein Handeln. Zweifel sind ihm fremd. Für Kerry bedeutet er Verpflichtung, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern und die eigenen Positionen zu hinterfragen.
Die wahlentscheidende Frage lautet nun, ob der Urnengang in 18 Tagen dem herkömmlichen Koordinatensystem der US-Politik folgt oder dieses durch den 11. September ausgehebelt wurde. Trifft Ersteres zu, müsste Kerry gewinnen. Zu mager ist Bushs Bilanz, zu viele Amerikaner sehen ihr Land in die falsche Richtung driften, sind unzufrieden mit der Wirtschaftssituation. Gilt Zweiteres, stehen die Sterne günstiger für Bush. Vor dem Hintergrund diffuser Terror- und Zukunftsangst scheuen viele Amerikaner nicht nur das Risiko eines Stabwechsels im Weißen Haus, sondern sehen in Bush immer noch den besseren Beschützer der Nation.