: Die Kosten der Ära Mahathir
Zwei Wochen vor dem heutigen Abschied aus seinem Amt muss die Nachricht, dass Taiwans „Taipeh 101“-Wolkenkratzer das höchste Gebäude der Welt wurde, bei Malaysias Premierminister Mahathir Mohamad einen Nerv getroffen haben. Denn damit sind sein Stolz und Ruhm, die „Petronas Towers“ in Kuala Lumpur, nicht mehr länger das höchste Gebäude der Welt. Malaysia hat seine Führung in diesem Bereich verloren. Schlimmer noch, es ist wohl nicht in der Lage, ein weiteres Gebäude zu bauen, dass den Weltrekord bricht. Das dürften viele Malaysier aber erleichtert aufnehmen. Die Ära Mahathir ist endlich vorbei, und die gewöhnlichen Malaysier werden beginnen, die menschlichen, wirtschaftlichen und politischen Kosten von über zwei Jahrzehnten spektakulärer Entwicklung und ebenso spektakulärer Fehlschläge zu zählen.
Die letzten Amtstage des für seine scharfen Reden bekannten Mahathir waren voller Dramatik. Dies spiegelt den komplexen und oft verwirrenden Charakter dieses Mannes wider: Während er früher islamischen Extremismus verurteilte und muslimische Regierungen aufforderte, Selbstmordanschläge als Methode der Kriegsführung abzulehnen, schockierte er Mitte Oktober die Welt mit seiner Rede beim Gipfel der Organisation der Islamischen Konferenz in Malaysia. Er sprach von einer „jüdischen Verschwörung“, um die Welt zu beherrschen. Er behauptete, dass Juden „die Welt durch Vertreter beherrschen“ und „Sozialismus, Kommunismus, Menschenrechte und Demokratie erfanden“, um einer Bestrafung zu entgehen und Kontrolle über die Länder des Westens zu gewinnen. Damit redete er dem Publikum wie ein Demagoge nach dem Mund, um die Unterstützung arabischer Staaten zu gewinnen und gleichzeitig die islamistische Opposition zu Hause kurz zu halten. Aber wie immer waren seine oft generalisierenden und bombastischen Bemerkungen mit Kosten verbunden.
Die Ära Mahathir (1981–2003) hat zweifellos das politische, wirtschaftliche und soziale Terrain Malaysias geprägt. Es gibt heute beeindruckende Wolkenkratzer und glitzernde Einkaufszentren, aber bei näherem Hinsehen sind auch Slums, Flüchtlingssiedlungen und verstopfte Straßen zu erkennen.
Im Ausland hob Mahathir Malaysias Ansehen auf unbekannte Höhen. Er wurde bekannt als Malaysias „Baby Suharto“, der für die Rechte der so genannten Dritten Welt und die Länder des Südens eintrat. Deshalb gewann er in Afrika, Lateinamerika, Asien und der arabischen Welt stark an Ansehen. Immer offensiv gegen das, was er als westlichen Neokolonialismus und das schändliche Treiben des globalen Kapitals ansah, verurteilte Mahathir die Versuche westlicher Regierungen, sich in die Innenpolitik von Entwicklungsländern einzumischen, wie auch ihre Scheinheiligkeit im Umgang mit den Menschenrechten. Aber zugleich ignorierte er die Menschenrechtsverletzungen seiner Verbündeten, vor allem in Simbabwe, der arabischen Welt, Indonesien und Birma. Das zeigt Mahathirs eigene Doppelmoral.
Ein Großteil des Wandels in Malaysia erfolgte aufgrund lokaler und internationaler Faktoren, die außerhalb Mahathirs Kontrolle lagen, wobei manches auch seiner Politik geschuldet war. Über zwei Jahrzehnte hat Mahathirs Regierung mit Hilfe westlicher und japanischer Investitionen die malaysische Wirtschaft von einem kolonialen, binnenmarktorientierten Hinterhof in eine verarbeitende halbindustrielle Ökonomie verwandelt, die eng mit dem Weltmarkt verflochten ist. Malaysias Gesellschaft erlebte dabei all die Schocks, die mit schneller Modernisierung und Entwicklung einhergehen wie massive Landflucht, das Auftreten sichtbarer Klassen- und Machtunterschiede und den Problemen, die mit übervölkerten städtischen Räumen verbunden sind.
Letztlich war es die Asienkrise 1997/98, die der Entwicklung den Schwung nahm und die wirtschaftliche Blase platzen ließ. Über Nacht wurde den Malaysiern (wie auch anderen Südostasiaten) deutlich, wie brüchig der wirtschaftliche und politische Konsens in ihrem Land ist. Die Krise zeigte, wie verwundbar die malaysische Ökonomie für einen Wechsel internationaler Wirtschaftstrends und die räuberischen Manöver des globalen Kapitals ist. Zudem wurde deutlich, wie sehr das malaysische Wirtschaftswunder auf Spekulation, der Kreditvergabe nach politischen Interessen und der Abhängigkeit von Auslandskapital basierte. Erschwerend kam hinzu, dass die Wirtschaftskrise bald zur politischen Krise wurde. Mahathir geriet mit seinem Stellvertreter Anwar Ibrahim in Konflikt. Diesen moderat-reformistischen Islamführer hatte Mahathir einst hofiert und 1982 selbst in die regierende Umno-Partei gebracht.
Jetzt wurde Anwar als stellvertretender Premier und Finanzminister gefeuert, aus der Umno geworfen und schließlich verhaftet und verurteilt. Die Peinlichkeit wurde noch dadurch gesteigert, dass Anwar nicht nur mit Waffengewalt verhaftet, sondern später auch noch körperlich vom obersten Polizeichef Rahim Noor angegriffen wurde. Den Prozess gegen Anwar sahen viele als Farce, die das Ansehen der malaysischen Justiz und Polizei beschädigte.
Diese Entwicklungen zeigten die strukturellen und institutionellen Kosten der Mahathir-Ära. Der Mann, von dem man sagt, er hätte die malaysische Wirtschaft auf sehr spektakuläre Art transfomiert, wird auch für die systematische Erosion vieler wichtiger staatlicher Institutionen wie der Justiz oder Polizei verantwortlich gemacht .
Nach zwei Dekaden des Mahathirismus ist der malaysische Staat heute noch zentralisierter und sein autoritäres Gebaren auf einem Höhepunkt. Die Pressefreiheit wurde eingeschränkt, indem die größten Zeitungen und Fernsehsender von den Parteien der herrschenden Koalition der nationalen Front erworben wurden. Die Opposition wurde geknechtet durch Gesetze wie das Interne Sicherheitsgesetz (ISA), das Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren ermöglicht, und das ebenfalls aus der britischen Kolonialzeit stammende Gesetz gegen Volksverhetzung. Obwohl Mahathirs Ruf als Ultranationalist auf seiner Behauptung basiert, Malaysia von kolonialer und neokolonialer Herrschaft befreit zu haben, scheute er sich so wenig wie andere Führer der Dritten Welt, mit repressiven Kolonialgesetzen sein Volk zu kontrollieren und ihm seinen Willen aufzuzwingen.
Vielleicht am beunruhigendsten ist Mahathirs Erbe im Hinblick auf den Islam. Als er 1981 an die Macht kam, war er entschlossen, einem progressiven, moderaten und liberalen Islam zu fördern. Er wollte damit den fundamentalistischen konservativen Islam kontern, der in anderen Teilen der muslimischen Welt auf dem Vormarsch war. So wurde seine Regierung zum Patron und Sponsor islamischer Initiativen wie der Internationalen Islamischen Universität, des islamischen Bank- und Versicherungswesens wie auch islamischer Forschungsinstitute und Thinktanks. In dieser Phase befand sich Mahathirs Partei Umno auch in einem Islamisierungswettbewerb mit der wichtigsten islamischen Partei des Landes, Pas. Umno versuchte den Islam zu modernisieren, indem es ihn in die Mitte der Regierung und des Staatsapparates brachte.
Zwei Jahrzehnte später sind Gesellschaft und Politik in Malaysia in der Tat islamischer geworden, aber nicht so, wie es Mahathir wollte. Heute spricht seine eigene Partei Umno die Sprache eines islamischen Staates, und Umno-Führer machen Gesetzesvorschläge, die so harsch und konservativ klingen, als stammten sie von den Hardlinern der Pas. Genau hier beim Kampf um die Herzen und Köpfe der Muslime hat Mahathir am meisten versagt. Weil seine Regierung die islamistische Opposition verfolgen und dämonisieren ließ, haben Pas und andere Gruppen mehr Macht gewonnen als andere Oppositionsparteien. Malaysias undemokratisches politisches System hat den Weg geebnet für ein Aufblühen noch undemokratischerer Formen des Islams. An den Universitäten des Landes hat die islamistische Opposition bei jeder Studentenwahl der letzten fünf Jahre hinzugewonnen – das deutlichste Zeichen dafür, dass Malaysias Muslime jetzt Mahathirs Art des modernistisch-entwicklungsorientierten Islam ablehnen.
Mahathirs Nachfolger Abdullah Ahmad Badawi steht vor einer großen Aufgabe. Er muss die bürokratischen Institutionen des States wieder aufbauen und dafür sorgen, dass Regierungsämter nach Qualifikation und nicht aufgrund politischer Verbindungen vergeben werden. Er muss das Justizsystem reformieren und Malaysier und das Ausland davon überzeugen, dass die Justiz des Landes fair und politisch unabhängig sein kann. Der Wettlauf der Islamisierung zwischen Umno und Pas muss umgekehrt werden. Die Regierung muss eine Vision des Islam vertreten, die auf den Werten der Toleranz, des Pluralismus, der Demokratie und der fundamentalen Menschenrechte der Bürger besteht.
Wirtschaftlich wird Badawi Malaysias Ökonomie wiederbeleben und sich auf weniger spektakuläre Projekte konzentrieren müssen. Dabei wird er auch die Wunden und Spaltungen in der Gesellschaft überwinden müssen, die durch die ungleiche und ungerechte Entwicklungspolitik entstanden sind. Am meisten muss er Malaysia zurückgeben, was als Preis für seine schnelle wirtschaftliche Entwicklung geopfert wurde: demokratische Kultur und Institutionen. Ob dies von Badawi oder jemand anders geleistet werden kann, ist eine offene Frage. Denn Malaysias nächster Premier wird im langen Schatten der Mahathir-Ära arbeiten müssen.
Aus dem Englischen: Sven Hansen