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Archiv-Artikel

Eremit im Land der Schmerzen

In völliger Einsamkeit hat sich Peter Reid darauf vorbereitet, heute zum vierten Mal den Ironman in Hawaii zu gewinnen. Früher neigte der Kanadier zur körperlichen Selbstzerstörung, inzwischen schwört der 35-Jährige auf ganzheitliches Training

VON SEBASTIAN MOLL

Peter Reid ist ein Schwärmer und Genießer. „Ist es nicht unheimlich schön hier“, wiederholt er immer wieder, während er in seinem Stammcafé am Strand von Victoria einen Cappuccino schlürft und hinaus über die Bucht auf die Berge von Washington schaut. Der beste Triathlet der Welt hat sich vor sechs Jahren hier, auf den Klippen von Vancouver Island, über der James Bay an der kanadischen Pazifikküste, ein Haus gebaut und es ist, als freue er sich jeden Tag darüber, an einem der hübschesten Flecken des nordamerikanischen Kontinents zu wohnen.

Der einzige aktive Athlet, der den Hawaii-Ironman dreimal gewonnen hat und der heute versuchen wird, ihn ein viertes Mal zu gewinnen, fühlt sich wohl dort, wo er gelandet ist im Leben. Doch in seiner eigenen Haut angekommen, ist der Kanadier erst vor kurzem. Genau genommen vor einem Jahr, als er zum dritten Mal nach 1998 und 2000 den härtesten Triathlon der Welt gewonnen hat.

Vorangegangen waren drei Jahre der Umwälzungen und inneren Aufwühlungen, die auch die wunderschöne Landschaft, in der er lebt und trainiert, nicht glätten oder lindern konnten. „Das fing beim Ironman 2000 an“, erinnert sich Reid. „Da lief auf den letzten Kilometern Tim de Boom so stark auf mich auf, dass ich mich quälen musste, wie ich mich noch nie gequält hatte und wie ich mich nie mehr quälen möchte.“ Reid rettete den Sieg knapp gegen seinen Rivalen aus Colorado über die Ziellinie, aber er hatte auch eine Grenze überschritten. In diesem Augenblick schwor er sich, es nie mehr so knapp werden zu lassen. Schon in der Woche danach begann er mit dem Training für das nächste Jahr: „Ich wollte härter trainieren, als je ein Athlet trainiert hat.“

Dass er es übertrieb, merkte zuerst seine damalige Lebensgefährtin Lori Bowden, die selbst zweimal den Hawaii-Ironman gewonnen hat. „Lori sagte morgens, ich sähe beschissen aus, aber ich wollte nicht hören, ich bin trotzdem zum Training gegangen.“ Bei Vorbereitungsrennen, die er eigentlich hätte gewinnen müssen, lief Reid hoffnungslos hinterher, doch er weigerte sich, die Zeichen zu erkennen. In Hawaii 2001 konnte er die Realitäten nicht mehr ignorieren. Er musste aufgeben. Kurz danach ließ Reid sich gründlich untersuchen. Die Diagnose: Er hatte seinen Körper völlig zugrunde gerichtet: „Ich hatte Blut im Urin und beinahe keine weißen Blutkörperchen mehr. Der Arzt sagte, dass ich, wenn ich so weiter mache, in drei Jahren Krebs habe.“

Reid hörte auf zu trainieren, fuhr ziellos mit dem Motorrad auf Vancouver Island herum und setzte Speck an. Bis ein Freund seine Orientierungslosigkeit nicht mehr mit ansehen konnte. „Er gab mir einen Trainingsplan aus einer Triathlonzeitschrift und sagte, „mach das doch mal, einfach so, ohne Druck.“ Der Trainingsplan stammte vom sechsfachen Hawaiisieger Mark Allen und war eigentlich für Anfänger gedacht. Als Reid Allen traf und ihm davon erzählte, fing Allen an zu lachen: „Er sagte, Peter, du solltest das Pensum vielleicht verdoppeln.“

Seither betreut Mark Allen Peter Reid. Und von Allen hat Peter Reid gelernt, mit seinen körperlichen Ressourcen nachhaltig umzugehen. „Früher gab es für mich nur Pulswerte und Pläne und Kilometervorgaben. Mark hat mir beigebracht, jeden morgen in mich selbst hineinzuhören und mich zu fragen, was an diesem Tag das richtige Training ist.“ Dieser Weg führte Reid zurück an die Spitze.

Reid ist nicht der einzige Top-Triathlet, der ein totales Burn-out erlebt hat. Der deutsche Thomas Hellriegel, Hawaii-Sieger von 1997, leidet derzeit an einem ähnlichen Syndrom: „Thomas hat mich schon gefragt, wie lange man denn Pause machen muss“, erzählt Reid. „Er hat Angst, dass er danach nie mehr sein altes Niveau erreicht. Das ist das Risiko dabei und das Schwere daran. Wenn mich meine Gesundheit nicht dazu gezwungen hätte, hätte ich das auch nie geschafft.“

Aber Reid hat es geschafft. Und seit er ganzheitlich trainiert, fühlt er sich so wohl wie nie. „Ich habe von Mark gelernt, Triathlon als Weg zu mir selbst zu begreifen“, sagt Reid. In der Vorbereitung auf Hawaii macht er jetzt ein Trainingslager ganz alleine in einer Hütte am höchsten Vulkan von Hawaii: „Das ist nicht einfach, so mit sich, dem Training und der Natur alleine zu sein. Man kann sich nicht ablenken und muss sich die großen Fragen stellen.“ Das auszuhalten, glaubt Reid, mache ihn jedoch seiner Konkurrenz überlegen: „Ich weiß am Start schon, dass ich stärker bin als die anderen.“ Viele Athleten zerbrechen beim Ironman in Hawaii, wenn sie alleine in der endlosen Lavawüste mit ihren Qualen kämpfen. Reid hingegen kennt sich aus in jenem Land der Einsamkeit und der Schmerzen. Er hat es erforscht und er weiß, wie weit er gehen kann. Und wo er lieber umkehren sollte.