Der Lokentführer von Treptow-Köpenick

Nach der Entführung einer S-Bahn am Samstag kommen absurde Details ans Licht: Steffen B. konnte den Zug zwanzig Stationen kutschieren, ohne dass die Kaperung groß aufgefallen wäre. Als die Polizei ihn stellte, zog er die Gaspistole

An Überzeugungskraft scheinen Uniformen nichts eingebüßt zu haben, seit Carl Zuckmayers Hauptmann das Rathaus von Köpenick kaperte. Steffen B. eroberte kein Rathaus, sondern eine S-Bahn. Auch ihm half am Samstag vor allem seine Uniform, eine beträchtliche Strecke auf der Linie 42 zurückzulegen, die auch durch Treptow-Köpenick verläuft. Vom Bundesplatz fuhr er bis Königs Wusterhausen. Und begann sogar die Rückfahrt, bevor er gestoppt wurde. Die eigentliche Fahrerin saß daneben. Sie hielt B. für einen Kollegen.

Allein im letzten Akt wurde die neu aufgelegte Version des Dramas fast zur Tragödie. Nach Angaben der Justizpressestelle Moabit widersetzte sich der Lokentführer von Treptow-Köpenick bei der Festnahme, feuerte mit einer Gaspistole auf die Polizisten und wurde von zwei erwiderten Schüssen in Oberschenkel und Brust getroffen. Er schwebt nach einer Notoperation nicht in Lebensgefahr. Der 19-Jährige muss sich jetzt wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verantworten. Gegen den Polizisten läuft eine Routineermittlung wegen Verdachts der gefährlichen Körperverletzung.

Am S-Bahnhof Bundesplatz bestieg B. gegen 16 Uhr den Zug, ging zur Lokführerin und bot ihr an, sie abzulösen. Die Frau willigte ein, blieb aber im Führerstand und fuhr mit ihm weiter. Sie kannte B., weil er sich oft in Diensträumen der S-Bahn aufgehalten und sich als Mitarbeiter ausgegeben hatte. Deshalb nahm die Führerin an, er habe eine Fahrerlaubnis. Aus dem selben Grund wurde B. seit zwei Wochen von der Betriebsaufsicht gesucht. Eine Mitarbeiterin informierte diese schon, als sie ihn am Bundesplatz einsteigen sah. Erst auf der Rückfahrt fand dann in Eichwalde eine Zugführerscheinkontrolle statt. Ein S-Bahn-Mitarbeiter übernahm den Rest der Fahrt.

B. wurde an der Station Hermannstraße zwei BGS-Beamten übergeben, denen er sagte, er habe den Führerschein zu Hause vergessen. Die beiden wollten B. nun zu seiner Wohnung bringen, um dort danach zu suchen. Als er in der Storkower Straße das Haus, in dem er angeblich wohnte, nicht genau bestimmen konnte, riefen die BGSler die Polizei. B. ließ sich jedoch nicht durchsuchen, riss sich los und schließlich kam es zum Schusswechsel.

Offenbar unterhält B. schon länger ein seltsames Verhältnis zur Schiene. Auch in Süddeutschland, wo er herstammt, hat er sich laut Justizsprecher Björn Retzlaff in Bahnerkreisen aufgehalten und sich als Bahnmitarbeiter ausgegeben. Zudem hatte der wegen Betrugs Verurteilte gerade gegen die Bewährungsauflagen einer Jugendstrafe des Amtsgerichts Baden-Württemberg verstoßen.

Mit dem Lokführen kannte B. sich wohl aus. Zwar müsse bei einem „betriebsmäßig aufgerüsteten“ Triebwagen in der Regel nur die Bremse gelöst und ein Fahrschalter bedient werden, erläuterte Hans-Joachim Kernchen, der Vorsitzende der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer im Bezirk Berlin-Sachsen-Brandenburg. Neben den Schienen aber stehen wichtige Signale. Geschwindigkeitsbeschränkungen etwa. Fährt die Bahn zu schnell, kann sie leicht entgleisen. B.s Wissen hat immerhin knapp zwanzig Stationen weit gereicht. Neben ihm immer die abgelöste Lokführerin. Sie sagt aus, sie habe wegen Übelkeit das Steuer übergeben.

Zweifeslohne war die Uniform B.s Ausweis. Ohne sie wäre er vermutlich nicht so ungestört gefahren. Denn: „Jeder, der als Zivilist auftritt, muss sich rechtfertigen“, so Kernchen. Allzu schwierig jedoch ist es nicht, an die Dienstkleidung zu kommen. Es gibt sie etwa im Internet. Auch der ehemals inhaftierte Schuster Voigt, seinerzeit sozusagen auf Bewährung, hatte sich nicht schwer getan, sein Hauptmannsgewand zu beschaffen – im Trödelladen. JOHANNES GERNERT