: Die Zornigen von El Alto
von GERHARD DILGER
Politisches Gespür ist Carlos Mesa nicht abzusprechen: Kaum war der Historiker und frühere Medienunternehmer vor gut zwei Wochen zum neuen bolivianischen Präsidenten vereidigt worden, fuhr er nach El Alto. „In der mutigsten Stadt Boliviens fordere ich nicht Vergessen oder Rache, sondern Gerechtigkeit“, sagte der Staatschef von einer Fußgängerbrücke aus vor tausenden Alteños. Die meisten der über 80 Toten und hunderten Verletzten, die das brutale Vorgehen von Polizei und Militärs gegen die Volksbewegung gefordert hatte, die den Regierungswechsel am 18. Okober erzwang, stammten aus El Alto („Die Höhe“). 26 von ihnen starben am 12. Oktober. Es war der 511. Jahrestag der Landung des Kolumbus in Amerika, der die weißen Eliten Hispanoamerikas bis heute als Festtag gedenken.
Die 700.000-Einwohner-Stadt, die sich wenige Kilometer oberhalb des Regierungssitzes La Paz auf 4.000 Meter Höhe erstreckt, war nicht zufällig das Epizentrum der mehrwöchigen Rebellion, die Mesas Vorgänger Gonzalo Sánchez de Lozada aus dem Amt gefegt hatte. Industriestadt, Vorort, Armensiedlung, Trabantenstadt – all diese Charakterisierungen greifen zu kurz. Der Ort funktioniert nicht nach der Logik westlicher Stadtplanung. Die Zuwanderung von hunderttausenden Indígenas aus dem umliegenden Andenhochland hat El Alto zur mittlerweile drittgrößten bolivianischen Stadt anschwellen lassen.
Ehemalige Bauern und Bergleute, kleine Staatsangestellte, die täglich nach La Paz pendeln, Arbeitslose, Händler – sie alle haben sich hier niedergelassen. Bei der letzten Volkszählung vor zwei Jahren bezeichneten sich 81 Prozent der Alteños als Indianer. Die nördlichen Viertel sind stark von der ländlichen Kultur der Hochland-Aymaras bestimmt. Die Familien jener Männer, die noch vor 20 Jahren in den Minen von Potosí und Oruro arbeiteten, konzentrieren sich in den Stadtteilen des Südens.
Allein im riesigen Labyrinth des „16 de Julio“-Markts bieten 40.000 KleinhändlerInnen Jeans, Turnschuhe, Heilkräuter, Meerschweinchen, Lamafötusse, CD-Raubpressungen oder Flugzeugreifen an. Der Markt ist nicht nur das ökonomische Kernstück von El Alto, sondern hier laufen auch die Fäden der politischen und sozialen Organisation zusammen. In der „Regionalen Arbeiterzentrale“ (COR) mit ihren unzähligen Untergruppierungen dominieren die Händler. Das Netzwerk wird durch Feste und vielfältige Verwandtschaftsbeziehungen gestärkt. Daneben gibt es 462 Stadtteilkomitees. Zu besonderen Gelegenheiten wird eine Gemeindeversammlung einberufen, die „Asamblea de la Alteñidad“.
Die COR ist dem Gewerkschaftsdachverband COB (Central Obrera Boliviana) angeschlossen, doch sie hat sich ihre Autonomie bewahrt. Ebenso wenig ordnen sich die Stadtteilkomitees ihren Sprechern bedingungslos unter, politische Forderungen und Aktionsformen werden gemeinsam ausgehandelt. Innerhalb der sozialen Bewegungen konkurrieren die Linksparteien „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) und „Indigene Bewegung Pachakuti“ (MIP) um die Vorherrschaft, die ehemaligen Regierungsparteien dominieren in den wenigen Mittelschichtsvierteln.
Die „lebendigen Kräfte“ von El Alto, wie sie sich selbst nennen, waren der Ausgangspunkt der jüngsten Rebellion. Anfang September organisierte COB-Generalsekretär Roberto de la Cruz vom 200 Kilometer südlich gelegenen Caracollo aus einen einwöchigen „Marsch für die nationale Würde“. Der Journalist, der als Jugendlicher nach El Alto gezogen war und letztes Jahr fast für die MIP in den Stadtrat gewählt worden wäre, wollte dabei die Rivalen Evo Morales (MAS) und Felipe Quispe (MIP) zusammenbringen. Die Basis von Morales sind die gut 35.000 Kokabauern aus dem Chapare-Tiefland, der 61-jährige Exguerillero Quispe steht der größten Bauerngewerkschaft der Andenhochebene vor.
„Wir wollten die Basis mit den beiden Bauernführern versöhnen“, erinnert sich de la Cruz. Aber nur Quispe kam und steuerte Lebensmittel für hunderte Demonstranten bei. Auch wenn Morales und seine Kokabauern wegblieben, schweißte der Marsch die Gewerkschaftsaktivisten und Studenten aus El Alto, die Landlosen und Kleinbauern zusammen. „Wach auf, Bolivien, wach auf, die Gringos wollen uns das Gas klauen“, sangen sie auf dem Weg nach La Paz.
Der Regierungsplan, über das von den Multis British Gas, Repsol YPF und der BP-Tochter American Energy gebildete Konsortium Pacific LNG Erdgas nach Mexiko und Kalifornien zu exportieren, einte nun sämtliche Protestierer auch über ihre Partikularinteressen hinaus. Bei einem geschätzten Gesamtumsatz von 27 Milliarden Dollar über 20 Jahre hätte der bettelarme bolivianische Staat nach den Planungen mit Steuern und Abgaben von gerade 4 Prozent rechnen können, behaupten die Kritiker. Für die Multis ist das von Expräsident Sánchez de Lozada privatisierte Erdöl- und Erdgasgeschäft eine Goldgrube: „Für jeden investierten Dollar machen wir 10 Dollar Gewinn“, soll sich der Repsol-Manager Roberto Mallea gebrüstet haben. In Lateinamerika hat nur Venezuela größere Erdgasreserven als Bolivien. Zusätzlichen Zündstoff bergen die Pläne, die Pipeline für das Projekt vom südbolivianischenTarija bis zu einem chilenischen Pazifikhafen zu bauen: Der Verlust des Zugangs zum Meer nach dem „Salpeterkrieg“ von 1879 an Chile erregt noch heute die Gemüter.
Im Oktober ging es dann Schlag auf Schlag: In La Paz ruft der Gewerkschaftsdachverband COB zum Generalstreik auf, Tage später erklären die Stadtteilkomitees von El Alto den Ausstand. Die Rufe nach dem Rücktritt des Präsidenten mehren sich. Als Bergleute aus Huanuni in El Alto eintreffen, erschießt die Polizei einen von ihnen. Die Demonstranten blockieren den Flughafen, die Zufahrtsstraßen zum Regierungssitz und vor allem die Benzinversorgung. Das Militär schießt mehreren Tanklastwagen den Weg frei. Am 12. und 13. Oktober sterben 40 Alteños im Kugelhagel. Die Rebellion, die schon längst eine Eigendynamik jenseits einzelner Führungspersönlichkeiten angenommen und sich auf mehrere Landesteile ausgeweitet hat, schlägt Präsident Sánchez de Lozada am 18. Oktober in die Flucht. Verfassungsmäßiger Nachfolger wird sein Vize Carlos Mesa.
Hatte Mesa in seiner Antrittsrede noch rasche Neuwahlen in Aussicht gestellt, will er mittlerweile bis 2007 im Amt bleiben. Über den Erdgasexport soll neu verhandelt und eine bindende Volksabstimmung organisiert werden. Eine verfassunggebende Versammlung, eine alte Forderung der Volksbewegung, könnte den Aymaras den Weg zu einer echten Teilhabe an der Macht bahnen.
Durch sein konziliantes Auftreten und die Bildung eines Kabinetts parteiloser Technokraten hat Mesa einen Vertrauensvorschuss erworben. Roberto de la Cruz, den der örtliche Weltbank-Vertreter mit 20 Millionen Dollar für Projekte in El Alto gelockt hat, setzt wenig Hoffnung auf den Staatschef: Der sei nämlich „von den Interessen der Oligarchie, der Multis und der USA“ umgeben, meint der Gewerkschafter. Womit er nicht Unrecht hat: Gerade in den reichen Provinzen des Ostens sitzt die weiße Führungsschicht fest im Sattel, und Washington hat Mesa schon bedeutet, er müsse an der repressiven Politik gegen die Koka-Pflanzungen festhalten.
Morales und Quispe haben Mesa eine 90-Tage-Frist eingeräumt, in der er zeigen soll, wohin die Reise geht. Quispes Parteifreund, der Abgeordnete Gabriel Bautista, hält hingegen wenig von Ultimaten und Drohungen: „Das Land muss durchatmen, es braucht Zeit. Lassen wir den Präsidenten arbeiten.“