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Archiv-Artikel

Glaub nicht alles

Gabriele Gillen und Walter van Rossum tragen nützliche politische Informationen wie eine Art Geheimwissen zusammen

VON BETTINA GAUS

Die sozialen Sicherungssysteme sind durch die demografische Entwicklung bedroht. Wenn die Menschen immer länger leben und deshalb die Beitragszahler für immer mehr Rentner aufkommen müssen, kann das nicht funktionieren. Weiß doch inzwischen jeder, oder? Stimmt nicht, sagt Wirtschaftsforscher Gerd Bosbach, langjähriger wissenschaftlicher Berater von Bundestag, Wirtschafts- und Finanzministerium. Sein Verdacht: Mit dem „Sündenbock Demographie“ solle „von den wirklichen gesellschaftlichen Problemen“ abgelenkt werden.

„Die Faktoren Arbeitslosigkeit, ausreichende und zeitgemäße Bildung sowie Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums haben für die Zukunft eine weit größere Bedeutung“, meint Bosbach und schreibt: „Der Altersquotient beschreibt die Situation völlig unzureichend. Nicht die Versorgung der Älteren durch die Erwerbsfähigen ist maßgebend, sondern die Versorgung aller durch die Erwerbstätigen!“

Darüber ließe sich gewiss trefflich streiten. Aber in der veröffentlichten Meinung wird darüber kaum je gestritten: „In schöner Gleichförmigkeit beten uns die Medien immer dieselben Verlautbarungen und wirtschaftsliberalen Ideologien vor“, schreiben die beiden renommierten Journalisten Gabriele Gillen und Walter van Rossum im von ihnen herausgegebenen „Handbuch der vermissten Informationen“: Das „Schwarzbuch Deutschland“.

Neben dem Beitrag von Bosbach zum Thema Bevölkerungsentwicklung finden sich darin fast 40 Artikel verschiedener Fachleute zu Stichworten wie Ausländer- und Asylpolitik, Datenschutz, Finanzmärkte etc. Für politisch Interessierte liest sich das Buch wie ein Krimi. Der Reiz liegt nämlich nicht darin, dass man jeder These begeistert zustimmen möchte, sondern darin, dass es so erfrischend anregend ist, einmal mit einem ganz anderen Blick als dem herkömmlichen konfrontiert zu werden. Und man fragt sich, warum manche unbestreitbaren Fakten so wenig bekannt sind.

Zum Beispiel: „Dass der Sozialstaat nicht ‚ausgeufert‘ ist, macht die Entwicklung der Sozialleistungsquote deutlich, die gegenwärtig niedriger ist als Mitte der 70er-Jahre, obwohl Arbeitslosigkeit und Armut seither drastisch zugenommen haben“, so der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge zum Thema Sozialstaat. Oder: „Noch 1990 wurden 90 Prozent aller Löhne in flächendeckenden Tarifverträgen ausgehandelt, heute sind es im Westen Deutschlands nur noch 68 Prozent und in Ostdeutschland sogar nur 53 Prozent. Im Gastgewerbe arbeiten inzwischen 63 Prozent zu Niedriglohntarifen, im Einzelhandel sind es gut 40 Prozent“ – schreibt Gabriele Gillen über Niedriglöhne. Und der Journalist Albrecht Kieser zum Stichwort Ausländer- und Asylpolitik: „Schiffskapitäne, die schiffbrüchige Flüchtlinge im Mittelmeer oder vor den Kanaren aufnehmen, werden nicht an Land gelassen und von den Strafbehörden der EU-Mitgliedsländer verfolgt; Schiffseigner und Chartergesellschaften raten ihren Kapitänen dringend an, ihre vorgesehen Route zu ändern, um den Kontakt mit Schiffbrüchigen zu vermeiden.“

Das „Schwarzbuch Deutschland“ ist eine Neuerscheinung, die lange überfällig ist. Geeignet zum Schmökern, vor allem aber Pflichtlektüre für alle, die ihre Wachsamkeit beim täglichen Medienkonsum schärfen möchten und nicht alles glauben wollen, was ihnen als unumstößliche Wahrheit präsentiert wird.

Gabriele Gillen, Walter van Rossum (Hg.): „Schwarzbuch Deutschland“. Rowohlt Verlag, Berlin 2009, 656 Seiten, 24,90 Euro