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Archiv-Artikel

Die Aura der Zonenkinder

Im Westpaket Bienenwachsknete statt Barbiepuppe, als Jungpionierin beim Krippenspiel: Erinnerungen an eine anthroposophische Kindheit zwischen den Plattenbauten von Halle-Neustadt

VON MARIA BERANEK

Meine Vergangenheit ist aus der Vogelperspektive ein Muster von Plattenbauten auf 51 Grad 29 Minuten Nord, 11 Grad 55 Minuten Ost. Die Koordinaten von Google Earth sind exakt, doch je mehr ich zoome, desto unschärfer wird das Bild. Es trennt mich mehr von meiner DDR-Kindheit als nur zwanzig Jahre auf der Zeitleiste.

Die popkulturelle Norm für Kindheitserinnerungen Ost, ob Jana Hensels Zonenkinder oder Ostalgie-Kino à la „Good Bye, Lenin!“ sind in meiner Erinnerungzone nur Randerscheinungen. Es geht nicht nur um Club-Cola: Auch die Barbiepuppe aus dem Westpaket kam bei mir nicht an.

Dabei war fast nirgendwo so viel DDR wie in Halle-Neustadt. Hochgezogen für Ingenieure und Chemiefacharbeiter, im Stadtwappen ein Benzolring. „Ha-Neu“ war eine real existierende Utopie mit Blocknummern an Stelle von Straßennamen. Doch im Inneren gab es private Nischen. Zum Beispiel das violette Kinderzimmer in einem Fünfgeschosser am Rande der Stadt. Hier weckte meine Mutter uns täglich mit einem Morgenspruch, bastelte mit Bienenwachsknete, sprach vor dem Essen einen Tischspruch und brachte uns abends wieder ins Bett, über uns der Feenreigen.

Ab und zu fuhren wir über die Magistrale von Ha-Neu in Richtung Altstadtkulisse. In einem Eckhaus am halleschen Neumarkt gab es die Christengemeinschaft. Meine Mutter empfand diese Gemeinde mit anthroposophischem Gedankengut als Bereicherung ihres Lebens, als ein Stück Individualität trotz DDR-Uniformierung. Für mich ist der Ort vor allem mit den Filzhüten der Hirten beim Oberufer Weihnachtsspiel verbunden. Gespannt wartete ich jedes Mal auf die Stelle, an der sie Plätzchen ins Publikum warfen.

Für meine Mutter war das Krippenspiel schon in den Sechzigerjahren zum Initialerlebnis geworden. Sie trat mit 18 in die Christengemeinschaft ein. Später hörte sie auf einer Gemeindefreizeit im thüringischen Hauteroda von der Anthroposophischen Gesellschaft, die in der DDR verboten war. Sie las Rudolf Steiners Werke in privaten Lesekreisen, tippte Aufsätze auf der Schreibmaschine ab, beschäftigte sich mit Heilpädagogik. Für mich waren die Auswirkungen ganz praktisch: Statt der DDR-Kindernahrung Milasan gab es bald Holle-Babypulver aus dem Westen, später auch homöopathische Medikamente, für den Postweg getarnt in neutralem Behälter. Überall ließ meine Mutter Elemente der Waldorfpädagogik in die Erziehung einfließen, Vollkornplätzchen, kaum Fernsehen und keine Barbiepuppen aus dem Westpaket. Sie setzte auf gesunde Ernährung, war kritischer zur Schulmedizin und ließ mich vom Pfarrer der Christengemeinschaft zu Hause taufen.

Erst nach sechs Jahren Waldorf-Kindheit brachte die Einschulung mich in Kontakt mit den staatlichen Sozialisationsinstanzen. Das Ost-Waldorfkind, das nicht wusste, dass es eins war, wurde ein Jungpionier mit blauem Halstuch und gelobte die zehn Gebote der Jungpioniere. Als die Grundschullehrerin zum Hausbesuch kam, versteckte meine Mutter ein Bild der Sixtinischen Madonna. Auch als Jungpionier fuhr ich zu den Stunden der Christengemeinschaft, nur halbherziger. Von der Hochstraße aus blickte ich in die erleuchteten OP-Säle des St.-Elisabeth-Krankenhauses, tatsächlich lag die ganze DDR im Sterben. Ich zappelte in der Märchenstunde, erzählte laut von Ernst Thälmann, hatte ich doch in Halle-Neustadt am Panzerzug-Denkmal Antifaschist gespielt.

Für meine Mutter blieb die Anthroposophie weiterhin ein Teil ihrer DDR-Identität. Im April 1989 nutzte sie einen Verwandtenbesuch in der BRD für einen heimlichen Abstecher in die Schweiz. In Dornach bewunderte sie die organischen Bauformen des Goetheanums, doch war sie zugleich auch enttäuscht, statt Urkommunismus herrschte dort der Schweizer Geldadel. Die große, äußere Freiheit kam dann bald auch in den Osten. Für meine Mutter war das nicht so wichtig wie die innere Freiheit, die sie längst schon besaß.

Für mich ist die Waldorf-Kindheit heute so weit entfernt wie Halle-Neustadt. Bei Google Earth sah ich, dass meine alte Schule abgerissen wurde. Unser Fünfgeschosser steht noch. Sehnsucht nach dem Ort der Kindheit empfinde ich nicht. Auch die Anthroposophie hat für mich keine Bedeutung mehr. Fast keine. Wenn ich erkältet bin, steht ein Fläschchen mit Globuli auf dem Tisch.