: Erziehung im Sperrgebiet
Wehret den Butterweichen: Der Drachenflug in der Hasenheide als Eignungstest für Mensch und Material
Die Hasenheide lockt mit leichtem Herbstwind und mit Sonnenschein: ideales Drachenwetter. Kinder sind draußen mit ihren Drachen und mit ihnen erwachsene Männer. Drachensteigen ist Männersache.
Die meisten Männer interessieren sich nicht besonders für die Kinder, sondern mehr für ihren Auftrag: Die Drachen müssen rauf, so schnell wie möglich, so hoch wie möglich, und stolz flattern im Wind – rums, rums! uffta, uffta! –, da stören die Kinder im Grunde nur.
Zwei Hauptgruppen fallen mir auf und zwei Erziehungsstile: links von mir ein leicht schwankender Opa mit zwei Jungs und rechts so eine Art Erzieher mit einer gemischten Gruppe aus Jungen und Mädchen – auch Letztere müssen das Drachensteigenlassen zur Not beherrschen, falls Krieg kommt.
„Nee, weg – Scheiße“, fährt der Opa den Jungen an, der den Drachen am Boden hält, „schneller!“ Der Junge rennt mit dem Drachen in der Hand, so schnell er kann, verbissen und ohne einen Laut von sich zu geben. „Mach doch“, brüllt der Opa, „Scheiße – so wird das nie was!“ Seine Stimme klingt ein wenig schleppend. Der zweite Junge kauert am Boden. Er wird einspringen, wenn sein Bruder nicht mehr kann, und dann wird er garantiert sein Bestes geben.
Eine ganz andere Linie fährt da die zweite Gruppe, den klassischen Versteherton: „Genau, Michael, sehr gut machst du das“, höre ich, „wunderbar, Lisa, ganz klasse!“ Dabei haben Michael und Lisa noch überhaupt nichts geleistet. Der Drachen liegt am Boden, während die Kinder lachend und unkonzentriert um ihn herumspringen. Keiner ist da, der ihnen mit der notwendigen Härte erklärt, dass sie damit das Gelingen der gesamten Aktion in Frage stellen. Ich tu’s auf jeden Fall nicht – es ist kaum meine Aufgabe, für die Versäumnisse anderer die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Diese verständnisvolle Tour ist wirklich das reinste Gift – das habe ich auch meiner Schwester schon hundertmal gesagt: diese butterweiche Hallo-bitte-danke-Scheiße bringt meine Nichten keinen Schritt weiter. Wenn die später aus ihrem Wolkenkuckucksheim arglos auf die Straße treten und mit der harten Realität konfrontiert werden …
„… Flossen weg, verdammt, Flossen weg!“, schreit es von links, der Drachen hebt sich kurz in die Lüfte und knallt dann direkt neben einer erschreckten Radfahrerin zu Boden. Grimmig stiert sie der Opa an: Sie hat hier nichts zu suchen. Hier ist Drachenflugzone – absolutes Sperrgebiet! Sie stört die Kämpfer, die Kinder, in ihrer bedingungslosen Konzentration.
„Los jetzt, noch mal“, kommandiert er, „wie kann man nur so’n Scheiß verkaufen“, bruddelt er in gerechtem Zorn in sich hinein. Der Drachen ist offenbar nicht gut: minderwertiges Material. Opa flucht. Mit der Kurbel hält er auch die Verantwortung in seinem Fliegerhorst. Das Kind rennt mit dem Drachen, es lässt ihn los, fällt und bleibt erschöpft am Boden liegen, während der Drachen in die Lüfte steigt. Opa jubelt: Er hat es geschafft! Gerührt blickt er seinem Drachen hinterher.
Die Waldorfheinis sind dagegen immer noch am Streicheln und haben natürlich nichts gerissen. Ihnen fehlt der letzte Biss, der unbedingte Wille zum Erfolg. Die Mitnahmementalität feiert mal wieder fröhliche Urständ. „Und dann musst du stehen bleiben, Thomas“, säuselt der Verzieher, „sehr gut!“ Aber nichts ist gut: Der Drachen bleibt am Boden, ein Symbol auch für die Wirtschaft, gerade jetzt. Wir müssen an allen Fronten kämpfen – es ist dies nicht die Stunde der Solidarität mit dem Schwächeren. Demokratie ist ja schön und gut – in besseren Zeiten ein eitles Spiel für linke Luftikusse und fette Philosophen. Dem Leistungsgedanken aber schaufelt sie sein tiefes Grab, hier, mitten in der Hasenheide. ULI HANNEMANN