Ungerechtigkeit in Person

Hohe Managergehälter bei steigender Arbeitslosigkeit schaden der sozialen Marktwirtschaft. Die Regierung tut nichts, um die Firmen in die Pflicht zu nehmen

Eine Reduzierung der Managerbezüge würde an der grundsätzlichen Ungerechtigkeit nichts ändern

Der Begriff „Gerechtigkeit“ steht zu Debatte. Ist die Senkung der Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der Sozialhilfe gerecht? Oder sind es die geplanten Entlassungen bei Opel? Wie steht es mit den Lohnsenkungen bei Siemens und DaimlerChrysler? Wenn der alte soziale Konsens umkämpft ist, verschwimmt auch der Sinn für das, was Gerechtigkeit ist.

Dabei bleibt der Vorwurf der Ungerechtigkeit eine scharfe Waffe. Regierung und Wirtschaftselite fürchten sich vor ihm. Sehr schön lässt sich das an der Debatte über die Gehälter der Unternehmensvorstände beobachten. Seit die 30-Millionen-DM-Abfindung für Ex-Mannesmann-Chef Klaus Esser Gegenstand eines Gerichtsprozesses war, reagieren viele Manager sensibel, wenn man sie nach der Berechtigung ihrer exorbitanten Bezüge fragt. Weil sich Rot-Grün im Gerechtigkeitsdiskurs von der CSU nicht links überholen lassen will, bereitet man ein Gesetz vor, um die Vorstände zumindest zur Ehrlichkeit zu zwingen. Offene Information über ihr Einkommen – heute die Ausnahme – wäre ein erster Schritt, um allzu krasse Selbstbedienung der Firmenchefs zu verhindern.

Dass die Managergehälter stark gestiegen sind, lässt sich nicht bestreiten. Aber sind sie deshalb ungerecht? Beanspruchen die Manager im Auftrag der Aktionäre einen zu großen Teil der Wertschöpfung, bereichern sie sich auf Kosten der Beschäftigten und der Allgemeinheit? Ein Weg, diese Fragen zu beantworten, findet sich in der „Theorie der Gerechtigkeit“ des US-Philosophen John Rawls. Der formulierte in den 1970er-Jahren das moralische Programm des politischen Liberalismus. Es spiegelt gleichzeitig die Erwartungen an eine funktionierende soziale Marktwirtschaft, die neuerdings unter die Räder gerät.

Rawls Kernthese: Soziale Gerechtigkeit existiert nur dann, wenn auch die im sozialen System am schlechtesten gestellte Position profitiert. Ein hoher Wohlstandsgewinn der Elite darf nicht mit Einkommensverlusten der Ärmsten erkauft werden. Wenn die Unterschicht nur wenig gewinnt, die Oberschicht aber sehr viel, läuft dies zwar auf eine zunehmende soziale Polarisierung hinaus – bedeutet aber in dem Fall keine Ungerechtigkeit, wenn alle wenigstens ein bisschen profitieren.

Dieses Postulat beinhaltet den Zustand der sozialen Marktwirtschaft zur ihrer besten Zeit: Der alljährliche Zuwachs wurde zu unterschiedlichen Anteilen auf die sozialen Gruppen verteilt, es ging aufwärts für – fast – alle. Wie ist es um diese Bedingung heute bestellt? Beispiel Siemens AG: Die Summe der Vorstandsbezüge hat von umgerechnet rund 8 Millionen Euro 1995 auf 28,2 Millionen Euro 2003 zugenommen – die Manager verdienen zurzeit etwa 350 Prozent ihres damaligen Salärs. Betrachtet man zum Vergleich die Position der Beschäftigten, so lässt sich daraus zunächst keine Ungerechtigkeit ableiten. Von 1995 bis 2003 war es der Gewerkschaft IG Metall in der Regel vergönnt, in den Tarifverhandlungen wenigstens bescheidene Steigerungen der Beschäftigtenlöhne durchzusetzen.

Das Bild verändert sich jedoch, bezieht man die Zahl der Arbeitsplätze in die Bewertung ein. International stagnierte die Zahl der Jobs im Siemens-Konzern, bei minimalem Zuwachs: Während das Unternehmen 1995 durchschnittlich 413.000 Leute beschäftigte, waren es 1995 417.000. Im Inland dagegen ist ein drastischer Rückgang zu verzeichnen: 1995 bezahlte Siemens in Deutschland 253.000 Arbeiter und Angestellte, acht Jahre später nur noch 170.000. Aus der Perspektive von Erwerbslosen betrachtet, bedeutet der Verlust von 83.000 inländischen Stellen eine erhebliche Verschlechterung ihrer Position.

Nun könnte man argumentieren: Die Firma handelt richtig, die Wachstumsmärkte liegen jetzt woanders, es ist sinnvoller, die Produkte dort herzustellen, als sie von Deutschland aus auf eine weite Reise zu schicken. Und: Die Gewinne aus Siemens’ weltwirtschaftlichen Erfolgen fließen zum Teil nach Deutschland zurück und schaffen hier neue Arbeitsplätze in neuen Firmen. Leider aber tritt genau dieser Effekt nicht ein: Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstellen in Deutschland geht zurück. Denn mit wenigen Ausnahmen handeln alle Großunternehmen wie Siemens. Auch DaimlerChrysler, auch die Deutsche Bank. Nicht in einzelnen Unternehmen werden Beschäftigte, denen der Arbeitsplatzverlust droht, ebenso wie Erwerbslose, die schwerer eine neue Anstellung finden, schlechter gestellt, sondern in der gesamten deutschen Wirtschaft.

Diese Verluste an Lebensqualität für die am wenigsten Begünstigten stehen dem gewaltigen Zuwachs an Wohlstand gegenüber, den die Vorstandsmitglieder einfahren. Die Summe der Vorstandsgehälter bei der Deutschen Bank beträgt heute gut 600 Prozent der Verdienste von 1995. Bei DaimlerChrysler sieht es ähnlich aus. Mit John Rawls gesprochen, lässt das Missverhältnis zwischen Verlust am einen Ende und Zuwachs am anderen nur einen Befund zu: Dieses System der Verteilung von Wohlstand ist ungerecht.

Dass das Rawls’sche Verständnis von Gerechtigkeit lebensweltlich und politisch relevant ist, beweist die Bereitschaft der Vorstände, ihre Gehälter öffentlichkeitswirksam zu reduzieren, um weitere Zugeständnisse der Belegschaften zu erkaufen. So geschehen im Sommer bei DaimlerChrysler. Aktuell bietet VW einen gewissen Gehaltsverzicht der Manager an. Das mag die Wut der Beschäftigten dämpfen, die noch in den Konzernen arbeiten. Der Befriedung des Konflikts mit jenen, die aus dem Arbeitsprozess bereits ausgestoßen sind, dient die symbolische Bescheidenheit freilich nicht.

Es stimmt: Die Gehälter der Manager sind stark gestiegen. Aber sind sie deshalb ungerecht?

Wie aber könnte wieder Gerechtigkeit hergestellt werden? Einerseits ist bedenkenswert, was der Bremer Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel vorschlägt: Die Vorstandsgehälter sollten das 50fache des normalen Lohns im jeweiligen Unternehmen nicht übersteigen. Die Chefs deutscher Aktiengesellschaften dürften – über den Daumen gepeilt – dann nicht mehr als 1,5 Millionen Euro pro Jahr verdienen. Zum Vergleich: DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp lässt nicht dementieren, dass er 2003 10,8 Millionen bekommen hat. Käme die Hickel-Regel zur Anwendung, hätte Schrempp einen Verlust von 9,3 Millionen pro Jahr zu verschmerzen. Ob er von Rot-Grün per Gesetz oder vom Daimler-Aufsichtsrat per Beschluss dazu verdonnert wird? Man darf gespannt sein.

Andererseits: Auch eine Reduzierung der Managerbezüge würde an der grundsätzlichen Ungerechtigkeit nichts ändern. Dazu müssten die Konzerne vor allem durch ausreichende Steuerzahlung zu einer menschenwürdigen Finanzierung der Erwerbslosen beitragen. Das aber ist ein frommer Wunsch angesichts des internationalen Steuerdumpings und des mangelnden Willens der Bundesregierung, die Unternehmen adäquat an gesellschaftlichen Aufgaben zu beteiligen. So bleibt einstweilen nur der Befund, dass das Maß an Ungerechtigkeit, das die vermeintlich „soziale“ Marktwirtschaft hervorbringt, weiter unkontrolliert zunehmen wird.

HANNES KOCH