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Archiv-Artikel

Ein Medikament auf dem Prüfstand

Krankenkassen überprüfen, warum in Bremen so häufig menschliche Wachstumshormone verschrieben werden

Somatropin, das menschliche Wachstumshormon, gehört mit zu den ersten Medikamenten, die mit Hilfe gentechnischer Methoden hergestellt werden konnten. Schon vor über 15 Jahren wurde die Gentech-Produktion des bis dahin raren Medikaments aufgenommen. Seitdem steht es fast unbegrenzt zur Verfügung und wird auch zunehmend von Ärzten eingesetzt.

Zugelassen ist der Wirkstoff zur Therapie bei Kindern, denen es an Wachstumshormon mangelt; außerdem darf er bei einigen seltenen Organstörungen eingesetzt werden, etwa bei Niereninsuffizienz. Nicht erlaubt ist Somatropin zur Behandlung des so genannten idiopathischen Kleinwuchses, was schlicht bedeutet: ohne erkennbare Ursache. Anders in den USA: Dort hat die Arzneimittelbehörde FDA Ende Juli genehmigt, dass gesunden Kindern ein Somatropin-Präparat namens Humatrope gespritzt werden darf, wenn sie zu den kleinsten 1,2 Prozent gehören. Die Zulassung stützt die FDA auf Ergebnisse von zwei multizentrischen Studien des Humatrope-Herstellers Eli Lilly; beteiligt waren rund 300 gesunde Mädchen und Jungen mit idiopathischem Kleinwuchs. Heraus gekommen sei dabei, dass regelmäßige Humatrope-Injektionen das Wachstum um drei bis sieben Zentimeter steigern könnten.

Hierzulande gilt als „kleinwüchsig“, wer als Erwachsener nicht größer als 1,50 Meter wird, was für rund 100.000 BundesbürgerInnen zutrifft. Ihre Interessen vertreten will der Bundesverband „Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien“ (BKMF) mit Sitz in Bremen.

Die Entscheidung der FDA unterstützt BKMF-Geschäftsführer Karl-Heinz Klingebiel zwar nicht pauschal. Er ist aber dafür, das Verabreichen von Somatropin in Ausnahmefällen auch bei Minderwuchs ohne bekannte Ursache zu ermöglichen. Begründung: „Mir geht es um die Möglichkeit der Betroffenen, frei zu wählen.“ Möglich, dass eine „freie Wahl“ gelegentlich längst stattfindet und von ÄrztInnen abgerechnet wird – zu Unrecht allerdings. Das jedenfalls argwöhnt die ebenfalls in Bremen ansässige Handelskrankenkasse (HKK), seitdem sie die Statistik der 30 umsatzstärksten Fertigarzneimittel in der Hansestadt durchforstet hat. Ergebnis für 2002: Auf den Plätzen 6 und 14 rangieren mit Genotropin und Norditropin zwei Medikamente, die das Wachstumshormon enthalten; insgesamt 2,6 Millionen Euro netto erstatteten Bremer Kassen 2002 für Somatropin-Präparate.

Was der HKK besonders aufgefallen ist: In Bremen werden Rezepte für Wachstumshormon fast fünfmal häufiger ausgestellt als im Bundesdurchschnitt. „Diese Abweichung“, vermutet die HKK-Pharmazeutin Beate Jungmann-Klaar, „kann nicht allein medizinisch begründet werden.“ Deshalb habe man Nachforschungen angestellt. „In einigen Fällen“, so Jungmann-Klaar, „haben wir sogar festgestellt, dass Somatropin entgegen den gesetzlich festgelegten Indikationen verschrieben wurde.“ 13 Fälle prüft nun ein gemeinsamer Ausschuss der Bremer Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigung. „Die Ergebnisse erwarten wir bis Ende des Jahres“, sagt HKK-Sprecher Holm Ay.

Eine Therapie mit Wachstumshormon kostet laut Arzneiverordnungsreport pro Jahr rund 15.000 Euro bei Kindern, bis zu dreimal so viel wird für erwachsene PatientInnen ausgegeben. Die Krankenkasse verweist aber nicht nur auf hohe Kosten, sondern auch auf gesundheitliche Risiken: „Bedenklich“ ist nach Ansicht der HKK, „dass die Hersteller bis heute den Verdacht massiver Nebenwirkungen und Spätschäden nicht ausräumen konnten“.

Tatsächlich ergaben Studien, dass mit Somatropin behandelte Kinder deutlich häufiger an Diabetes Typ 2 erkranken als Gleichaltrige, die kein Wachstumshormon einnehmen. Zudem verweist die HKK auf folgenden Eintrag im Bundesanzeiger: „Nach wie vor besteht der Verdacht, Somatropin könne die Krebsentwicklung fördern.“ Und der Pharmakonzern Pfizer informierte Ende Mai Ärzte darüber, dass weltweit sieben Kinder gestorben seien, die das von der Pfizer-Tochterfirma Pharmacia hergestellte Somatropin-Präparat Genotropin regelmäßig eingenommen hatten. Alle Verstorbenen lebten mit dem Prader-Willi-Syndrom, das unter anderem mit Minderwuchs einher geht.

Um die Kritik der HKK zurückzuweisen, bat der BKMF im April einen Professor aus Tübingen nach Bremen. Der Hormonspezialist Michael B. Ranke erläuterte während einer Pressekonferenz, bei der Behandlung von Wachstumsstörungen habe die Kinderklinik des Zentralkrankenhauses Bremen-Nord „überregionale Bedeutung“. Versorgt würden dort auch viele PatientInnen aus anderen Bundesländern, was im Wesentlichen erkläre, warum Somatropin in Bremen vergleichsweise häufig verordnet werde.

BKMF-Fürsprecher Ranke engagiert sich auch im Forschungsprojekt „Wachstumshormontherapie bei Kindern ohne Wachstumshormonmangel“. Initiiert wurde es vom Bonner Institut für Wissenschaft und Ethik, finanziert wird es durch die „Förderinitiative Bioethik“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Im Projekt sollen Kinderärzte, Psychologen und Philosophen gemeinsam „ethische Kriterien für die Behandlungsentscheidung“ bei kleinwüchsigen Kindern entwickeln, denen es an Wachstumshormon gar nicht fehlt. Die dreijährige DFG-Förderung läuft noch bis Ende November. Anschließend ist mit bioethischen „Empfehlungen“ zu rechnen. KLAUS-PETER GÖRLITZER