Wesen mit Würde

Brigitte Zypries will der Biotechnologie in Deutschland den Weg bahnen und dafür den Embryonenschutz schmälern. Den Begriff der Menschenwürde weicht sie gefährlich auf

Menschenwürde erscheint als Eigentum, das zuerkannt werden kann – oder nicht

Wenn Brigitte Zypries von den Wünschen, Versprechungen und Ergebnissen der Stammzellforschung spricht, variiert sie im Verlauf ihrer Rede immer wieder den Satz: „Ich meine, wir müssen diese Entwicklung sehr sorgfältig beobachten.“

Ihr Programm ist klar: Sie sieht sich als Vollstreckerin des Faktischen. Strikt positivistisch orientiert will sie, dass Gesetze allenfalls regulieren, was ohnehin kommt. Normativ wirken und zur Gestaltung von Gesellschaft auch durch Grenzziehungen beizutragen, ist ihre Sache nicht.

Als Zypries vergangene Woche ihre programmatische Rede „Verfassungsrechtliche und rechtspolitische Fragen der Bioethik“ untertitelte, war das nicht wirklich so gemeint: Um Fragen ging es der Rechtspolitikerin nicht, sie weiß schließlich Antworten. Bezeichnend war auch, dass sie den Anlass ihres Auftritts mit keinem Wort erwähnte: Am 27. November tagt der EU-Ministerrat, um Einigkeit über das 6. EU-Forschungsrahmenprogramm herzustellen. Es sieht unter anderem vor, dass künftig verbrauchende Embryonenforschung in der Europäischen Union mit erheblichen Beträgen gefördert werden wird. Bislang hat sich die Bundesrepublik unter Verweis auf die deutsche Rechtslage und auf den Bundestagsbeschluss zum Stammzellgesetz quer gestellt – eine Position, die Kanzler Schröder, der große Hoffnungen in die Biotech-Industrie setzt, nie gern eingenommen hat und die er so schnell wie möglich räumen möchte.

Die Rede von Brigitte Zypries weist den Weg in diese nicht ganz neue Richtung. Zwar behauptete sie noch, die Bundesregierung werde sich in Brüssel nachdrücklich dafür einsetzen, dass Forschungsförderung auf Projekte mit bestehenden Stammzelllinien beschränkt bleibe. Bestehende Stammzelllinien können aber auch solche sein, die nach dem Stichtag des deutschen Stammzellgesetzes, dem 1. Juni 2002, geschaffen wurden. Vor allem aber betont Zypries in diesem Zusammenhang die Forschungsfreiheit und stellt ausdrücklich eine Lockerung des Stammzellgesetzes zur Diskussion.

Ihr Schlüsselsatz ist: „Von Verfassungs wegen ist dies jedenfalls nicht untersagt.“ Denn der in vitro erzeugte Embryo soll zwar menschliches Leben sein und auch ein Recht auf Leben haben. Menschenwürde komme ihm aber nicht zu, weil er nur „die lediglich abstrakte Möglichkeit“ habe, sich als Mensch zu entwickeln. Die Überlegung, es könne menschliches Leben geben, das ein Recht auf Leben hat, aber keinen Anspruch darauf, als Wesen mit Würde behandelt zu werden, weist allerdings weit über die aktuelle Kontroverse um die Stammzellforschung mit menschlichen embryonalen Zellen hinaus – und streift beispielsweise auch die Debatte um die Sterbehilfe.

Dazu passend hat Justizministerin Zypries in ihrem Vortrag darauf verwiesen, dass im Zuge der Bioethik-Debatte einflussreiche Staatsrechtler, die im Grundgesetz absolut gesetzte Menschenwürde zur Abwägung freigeben und damit in Konkurrenz zu anderen Grund- und sonstigen Rechten stellen wollen. Sie selbst lehnt diesen Vorstoß zwar ab, will die Würde aber auf andere Weise klein reden.

Gerade brisante Konstellationen sollen vom Schutzbereich der Menschenwürde – ginge es nach ihr – gar nicht mehr erfasst werden. Damit greift Zypries einen schwachen Punkt der Bioethik-Kritiker auf, denn dass die in vitro verschmolzenen Ei- und Samenzelle, ein kaum sichtbarer Zellhaufen, der mit dem späteren Menschen auf den ersten und zweiten Blick noch wenig zu tun hat, Würde haben soll, leuchtet tatsächlich nicht intuitiv ein.

Die Konsequenz von Zypries’ Überlegung ist allerdings verheerend: Die Menschenwürde wird so zu einem Wert, der nicht zum Menschenleben an sich gehört, sondern nur Menschenleben zugewiesen wird, die bestimmte Qualitäten erlangt haben. Dann wird – bald nicht nur bei Embryonen, sondern auch in anderen Konstellationen erwogen werden, ob jemandem Würde zukommt.

Das Argument, einem Menschenleben brauche eigene Würde nicht zuerkannt werden, weil die „lediglich abstrakte Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln“, dafür nicht ausreiche, legt zudem einen weiteren Gedanken nahe: Ein Menschenleben, das sich im allgemeinen Verständnis gar nicht mehr entwickelt, das, zumindest angeblich, kein Erleben mehr bewirkt, könnte dann erst recht keine Würde haben. Bei Sterbenden im Zustand des Hirntods ist diese Konsequenz, wenn auch nicht ausdrücklich, schon gezogen worden. Patienten im Wachkoma oder Menschen mit schwersten geistigen Behinderungen werden mit ähnlichen Fragen konfrontiert werden, wenn Menschenwürde zum Grundrecht wird, das verliehen werden muss.

Doch das Konzept von Menschenwürde, das Zypries’ Vorstoß zugrunde liegt, wird nicht nur gefährliche Konsequenzen haben: Es ist selbst falsch, weil es auf einem reduzierten Konzept von Menschenwürde basiert. In Zypries’ Rede wird Menschenwürde als eine Art Eigentum gesehen, das jemandem zuerkannt werden kann – oder auch nicht. Menschenwürde wird so zu einer Angelegenheit des Individuums. Aber ein Einzelner allein, der erste oder der letzte Mensch, hat keine Würde. Menschenwürde entsteht in einem gesellschaftlichen Verhältnis, in dem Sinne, dass jemand nicht nur Würde hat, sondern auch gewürdigt wird. Sie ist Ausdruck der Art der sozialen Beziehungen zwischen Menschen.

Deswegen kommt es auch nicht auf die Eigenschaften der jeweils einzelnen Träger der Menschenwürde an, sondern darauf, dass sie in einem Verhältnis zueinander stehen. Das gilt für Menschen im Wachkoma so gut wie für Embryonen. Das Verhältnis zwischen geborenen Menschen und in vitro erzeugten Embryonen ist allerdings anders ausgeprägt als das zwischen geborenen Menschen untereinander. Deswegen mag es schwierig sein, in einzelnen Handlungen von Menschen gegenüber den Embryonen in der Petrischale einen Verstoß gegen deren Menschenwürde zu sehen. Das heißt aber nicht, dass die Embryonen keine Träger der Würde wären. Werden sie aber, wie in der Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen zum bloßen Mittel für Forschungszwecke gemacht, dann wird damit auch gegen die Menschenwürde dieses Menschenlebens verstoßen. Das soziale Verhältnis zwischen Forschern und dieser Form menschlichen Lebens wird in einer inakzeptablen Weise ausgestaltet, weil Embryonen ungeachtet ihrer Herkunft und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten als bloßes Material benutzt werden.

Die Lockerung des Stammzellgesetzes wird zur Diskussion gestellt, die Freiheit der Forschung betont

Das Ziel von Brigitte Zypries’ Rede ist deutlich: Der Biotechnologie soll auch in Deutschland freie Bahn geschaffen werden. Dass dafür Menschenwürde bisweilen Platz machen muss, nimmt sie in Kauf.

Dazu passt, dass die heutige Justizministerin schon als Staatssekretärin Otto Schilys im Innenministerium den pragmatisch begründeten erheblichen Abbau bürgerlicher Grundrechte überzeugt mitgetragen hat.

OLIVER TOLMEIN