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Archiv-Artikel

Nach dem Urteil ist vor dem Urteil

Nach dem Urteil über den Landeshaushalt debattierte gestern das Abgeordnetenhaus. Am Montag wird über einen Misstrauensantrag abgestimmt. Wowereit gibt sich sozial

Am Montag stimmt das Abgeordnetenhaus über Misstrauensanträge gegen Klaus Wowereit und seinen Finanzsenator Thilo Sarrazin (beide SPD) ab. CDU, Grüne und FDP werfen ihnen vor, verfassungswidrig gehandelt zu haben, als sie den Landeshaushalt ins Parlament einbrachten. Die Debatte fand bereits gestern statt. Sie geriet zu einer Auseinandersetzung über die zukünftige Finanzpolitik.

In einer ungewohnt emotionalen Rede sprach sich Klaus Wowereit dafür aus, das Urteil des Verfassungsgerichts nicht als Legitimation zum Abbau staatlicher Leistungen im großen Stil zu nutzen. „Über die Frage, was sozial gerecht ist, kann kein Richter entscheiden“, so Wowereit. Dies sei vielmehr Sache der Politik. Die Spitzen der rot-roten Koaltion verständigten sich in den letzten Tagen darauf, im Wesentlichen an ihren bis 2007 geplanten Einsparungen festzuhalten. Allerdings sollen einzelne Maßnahmen vorgezogen werden.

Zusätzliche Sparmaßnahmen werden in den kommenden Wochen getroffen. Zudem denkt der Senat an „weitere Vermögensaktivierung“, was nur den Verkauf einer Wohnungsbaugesellschaft bedeuten kann. Dem Druck, „Berliner Ausstattungsvorsprünge“ an das Niveau anderer Bundesländer anzugleichen, will Wowereit nicht generell nachgeben. Vor allem eine Reduzierung der Studienplätze auf anderswo übliches Niveau lehnt die SPD ab.

Der heimliche Oppositionsführer dieser Tage ist Martin Lindner von der FDP. Er fordert mit Vehemenz Abbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst und von Sozialleistungen. Gegen Lindner kann die CDU kaum Aufmerksamkeit erringen: Zu sehr identifizieren sich die konservativen Abgeordneten mit Kultureinrichtungen und anderen Zuwendungsempfängern, um auch nur verbal die Axt schwingen zu wollen. Ein wenig hilflos zwischen rot-rotem Vernunftsparen und Lindner’scher Radikalkur stehen die Grünen. Ihr Fraktionschef Volker Ratzmann konzentriert sich deshalb auf eine Stilkritik des Senats.

Der SPD-Fraktionschef Michael Müller erklärt: „Mit diesem Urteil haben Sie sich mit in die Verantwortung geklagt.“ Die Koalition plant in den Haushaltsberatungen, strittige Ausgabentitel namentlich abstimmen zu lassen. So will man auch die Oppositionsabgeordneten zwingen, „beim Sparen Farbe zu bekennen“. Ungewohnt offen erklärte Wowereit, er „habe Angst“ vor einem weiteren Urteil des Landesverfassungsgerichts. Dies käme zeitgleich zur Klage Berlins vor dem Bundesverfassungsgericht und würde, so fürchtet Wowereit, deren Aussichten schmälern. „Es gibt auch Landesparlamente, in denen sich die Opposition dreimal überlegt, ob sie vor Gericht zieht.“ Das ist anderswo. Lindner hat schon angekündigt, auch gegen den kommenden Etat zu klagen. ROBIN ALEXANDER