Alles so schön trist hier

Als der Osten noch eine unbekannte Schöne war –Erinnerung an eine merkwürdige Erscheinung: die Ostalgie junger Westler

von EVA BEHRENDT

Eigentlich sollte es nur ein Witz sein. Als unter uns halbgebildeten Dreißigjährigen einmal wieder eine neue Nostalgiewelle geritten wurde, da fragte man, getragen vom schönen Schwung der Westalgien und Ostalgien sowie der gesamtdeutschen Vergangenheitsbewältigungs-Begeisterung, was denn nun eigentlich mit der West-Ostalgie sei, diesem völlig zu Unrecht links liegen gelassenen Symptom, welches nachweislich in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts einen nicht gerade kleinen Teil der westdeutschen Abiturienten erfasst und nach Berlin-Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain oder sogar in das unbekannte Land jenseits der Elbe getrieben hatte.

Gleich fiel allen eine Menge ein: Der neue Osten sei nämlich im Leben der um 1970 geborenen West-Menschen eine Art Atlantis gewesen, für das man Ofenheizung und Außenklo, Aussichten auf verrußte Hinterhofwände und ungemütliche Reisen durch äußerst trostlose Gegenden auf sich genommen habe. Natürlich habe man im Auf- und Umbruch an vorderster Front mitfeiern wollen, aber tatsächlich noch etwas anderes, Unbestimmteres gesucht. Für Momente sei es immerhin greifbar gewesen, an den Kreidesteilküsten Rügens wie in den gruselig gähnenden Mondlandschaften um Bitterfeld und Halle, in der charismatischen Gestalt Heiner Müllers wie im tief im Blut gefühlten Fiedelrock des wahrscheinlich beliebtesten West-Ostalgie-Songs „Am Fenster“ von City, in den vom Häuserendkampf kündenden Einschusslöchern unsanierter Mietshausfronten wie in der martialischen Schmiedekunst sowjetischer Ehrenmale.

Etwas Erhabenes habe man außerdem gespürt, wenn man nachts durch die Plattenbauareale von Marzahn oder durch die Leipziger Straße Richtung Alex gefahren sei, durch eine Architektur, die die darin wohnenden Menschen so anonym und ameisenfleißig erscheinen ließ. Genau dort habe man sich hineinfantasiert, in die schöne Unbekannte DDR, in eine retrospektiv merkwürdig anheimelnde Diktatur, in der man angeblich der Kälte wegen dicht hätte zusammenrücken müssen. Man hatte höchstens blasse Schimmer von ihr, doch nur zu gerne hätte man wenigstens einmal unter Panzern und Paraden am 1. Mai gestanden, der Stasi ins grimmige Gesicht geblickt, sich im Schoß der Brigade gewärmt oder mit ihr ins Koma gesoffen. Und sich rund um die Uhr dissident und geborgen zugleich gefühlt.

Ein Witz, wie gesagt, sollte das mit der West-Ostalgie sein. Aber nun fragte man sich doch: Was für ein emotionales Bild vom Osten hatte die Westjugend eigentlich in den Jahren nach dem Mauerfall? Empfand man tatsächlich Melancholie für etwas, was man nie gekannt hatte?

Vieles lässt sich mit dem berühmten Eigenen und Fremden erklären. Das Eigene im Westen bestand aus den fetten Kohl-Jahren. Distanz und Ironie, weltanschauliche Nüchternheit und Beschränkung aufs private Projekt Selbsterfahrung kennzeichneten die Westjugend in einer von den Amis gründlich umgebauten Gesellschaft. Der Kapitalismus war etabliert, der RAF-Terrorismus vorerst überstanden, und die Atomkraftwerke gingen eher in der Ukraine kaputt als dort, wo gegen sie demonstriert wurde. Alles war sauber und langweilig. Diese Bundesrepublik wäre nicht nur gesichts-, sondern außerdem auch geschichtslos gewesen, wenn sie nicht hin und wieder die abgespaltene östliche Hälfte daran erinnert hätte.

Sie spielte bis zur Wende für den jungen West-Menschen allerdings praktisch keine Rolle: Man nahm sie allenfalls am Rande wahr. Sie gehörte zum grenzenlos anthrazitgrauen Balken, der sich auf den „Tagesschau“-Landkarten rechts der Bundesrepublik bis kurz vor China schob. Dennoch wuchs man mit und in Institutionen auf, die im Namen der deutschen Teilung auf Annäherung bedacht waren. So betete man im Konfirmandenunterricht zwar nicht für die Wiedervereinigung, aber doch – „kleines Senfkorn Hoffnung“ – für das Ende des Kalten Krieges, während das Gymnasium Reisen in die DDR organisierte, zu denen sich regelmäßig nur halb so viele Teilnehmer anmeldeten wie zum Schüleraustausch nach Bristol oder Dijon. Am ehesten noch registrierte man den Osten im Sportfernsehen, wo man die einzigen Stars, die die DDR zu bieten hatte, wie achte Weltwunder begaffte.

1990 war man gegen die Wiedervereinigung, weil die Bürgerrechtler, von denen man annahm, sie hätten als einzige jenseits von Gorbi die Wende mit herbeigeführt, lieber erst noch eine zweite sozialistische Alternative probieren wollten. Das klang zumindest interessanter, als die Bürgerrechtler aussahen. Im selben Jahr trafen neben den dauergewellten und jeansbejackten Ossis auch ostdeutsche Kulturgüter in der Bundesrepublik ein: So las man in der 11. Klasse nicht nur Christa Wolfs gedankenschwer um den heißen Brei herum schreibenden „Störfall“ (auf den Lehrplänen hatte bislang „Der geteilte Himmel“ gestanden), sondern auch neben Goethes Werther Ulrich Plenzdorfs „Die Leiden des jungen W.“. Und da wusste man noch nichts von „Paul und Paula“, dem Carpe-diem- und Superliebesfilm der DDR schlechthin. Überhaupt hoben sich all die DDR-Filme, die man jetzt zu sehen bekam, von den westlichen Stoffen vor allem durch einen gründlichen, fast heiligen Ernst ab, zu dem noch nicht mal der französische Kunstfilm imstande war.

Genau das nahm einen in den kommenden Jahren posthum für die DDR ein. In der Kultur des Ostens, glaubte man, sei es nicht auch um Geld und Erfolg, sondern rigoros um Sinn und Form, ja Leben und Tod gegangen. Man erfuhr jetzt, was sich abgespielt hatte zwischen Künstlern und Kollegen, Stasi und Partei, wie viele Sitzungen der Schriftstellerverband anberaumen musste, um ein problematisches Stück festzunageln, wie viele verlogene Selbstkritiken der Autor schreiben musste, wie viele ebenso verlogene Tadel er erhalten hatte und ob er danach und seiner vielleicht nur mittelmäßigen Kunst wegen das Land verlassen musste oder nicht. Das alles war komplett kafkaesk – aber Kunst dadurch so existenziell wie nirgends im Westen. „Nothing goes, but everything matters“, erklärte Philip Roth den Osten im Gegensatz zum westlichen „Anything goes, but nothing matters“. Genau dadurch übte der Osten eine exotische Anziehungskraft aus, die proportional zu den eigenen popkulturellen Sozialisationserfahrungen und zum Ringen um die eigene Individualität wuchs.

Die Verklärung des Ostens in den Köpfen westlicher Bildungsbürger hat durchaus Tradition. Heinz Bude hat den „Mythos des Ostens und seine Spuren im deutschen Nachkriegsbewusstsein“ sowie seine Verschiebung vom Feudale-Seelen-Osten Dostojewskis und der ostelbischen Junker über den sibirischen Osten der Kriegs(gefangenschafts)erfahrung zum Osten der deutschen Alternative nachgezeichnet und festgestellt, dass die DDR in den letzten zwanzig Jahren ihres Bestehens den West-Linken und auch so manchem Bildungsbürger „eine real existierende Trost- und Traumlandschaft“ war. Sie bot so manchen Kulturpessimisten und Popverächtern ein heimliches transzendentales Obdach und ließ eine spirituelle Alternative zumindest ahnen. Dass alte Schlachtrösser wie Günter Grass und Heinrich Böll „sentimentale Reisen“ in die DDR unternahmen, nährte den Mythos weit mehr, als ein wütender Walter Kempowski, der den Kommunisten acht Jahre Zuchthaus zu verdanken hatte, an ihm kratzen konnte.

Wer in den 70er- und 80er-Jahren in einem sozialdemokratischen Gesinnungshaushalt aufwuchs, kennt jedenfalls neben vielen Tiraden über den sozialistischen Unrechtsstaat den gern und oft ausgesprochenen Satz: „Aber nirgends auf der Welt wird soviel gelesen wie in der DDR!“ Die Kulturreligiösität des Westens konnte problemlos im Osten andocken. (Noch extremer war die Ost-Kunstverehrung in Frankreich, wo schließlich Kieslowski und Kundera ihre größten Erfolge feierten.)

Sobald man in die (frühere) DDR reisen konnte, entdeckte man das deutschere Deutschland. Was in der Bundesrepublik sauber, gediegen und grob modernisiert alle Spuren der ja zugegebenermaßen dreckigen Vergangenheit tilgte oder von Pädagogik umrankt ins Museum stellte, war in der DDR aus Geldmangel oder sympathischem Schlendrian einfach irgendwo stehen und liegen geblieben. Bezaubernd, verzaubert marode war deshalb diese deutsche Hälfte, bis an den Mauerrand gefüllt mit malerischen, schön kaputten Industrieruinen aus der Wilhelmszeit, der Weimarer Republik, dem Dritten Reich und dem real existierenden Sozialismus, voller erblindeter, eingeschlagener Fenster und bröckelnder Balkone, voller Wracks, die Schätze bergen mussten.

Auch Techno war deutsch und ein Ausdruck unmöglicher Liebe. Zwischen den abgetakelten Schlachtschiffen Berlins, in Bunkern und Baulücken machte man die Entdeckung, dass zwischen all dem Abrissreifen und von Investoren so gut wie Gekauftem bereits heftig gefeiert wurde. Über Leitern und dreckige Treppen stieg man in Kellergewölbe, von denen man nicht wusste, ob es zur Kaiserzeit oder im Dritten Reich oder später gebaut worden war, stand nachts vor dickwandigen Gebäuden in klandestinen Schlangen, stieg solange in Industrieruinen herum, bis sich irgendwann eine Stahltür öffnete und dahinter das Neue, das ganz und gar unerhört Neue begann: Techno. Die ersten deutschen Kulissen von Techno barsten vor Geschichte. Preußen umstand praktisch jede Tanzfläche, auf der die Gegenwart so euphorisch wie nie zuvor gefeiert wurde.

Aber so einfach war es nicht mit diesem neuerdings wiedervereinigten Deutschland, auf das man niemals stolz gewesen war und auch jetzt und in Zukunft nicht stolz sein wollte. Obwohl man vieles erst jetzt entdeckte und mit touristischer Neugier betrachtete, konnte man es nicht unvoreingenommen betrachten. Stattdessen warf man melancholische Blicke auf dieses alte neue Deutsche, weil klar war, dass man sich einerseits hier ganz gerne gesamtdeutsch identitätsstiftend angelehnt hätte, dies aber andererseits um keinen Preis zulassen konnte. Zumal mit dem Mauerfall vom ersten „Wir sind ein Volk“-Gegröle an auch etwas hochkochte, womit man nichts zu tun haben wollte: Als man in den neuen Bundesländern die ersten Jungneonazis sah, von brennenden Asylantenheimen, applaudierenden Anwohnern und totgeprügelten Ausländern hörte, wandte man seine melancholischen Blicke auch schon entsetzt wieder ab, um ganz genau hinzugucken. Ebenso, als im Westen forsche Jungkonservative im Schulterschluss mit links-reaktionärer Prominenz „Die selbstbewusste Nation“ ausriefen.

Einer jedoch stand ungebrochen in diesem Dilemma: Heiner Müller, dessen Offenherzigkeit man stets auch ironisch verstand, wenn er sagte, seine Kunst brauche die Diktatur. Einen gemeinsamen Höhepunkt feierten Ost- und West-Ostalgie Anfang 1996, als der Repräsentant des guten deutschen Ostens und der einzig wirklichen sozialistischen Alternative gestorben war: Man verschickte Postkarten, auf denen er aus einem Gulli lugte, las noch ein paarmal „Zahnfäule in Paris“ und pilgerte sentimental auf den Dorotheenstädtischen Friedhof, um in den Aschenbecher an seinem Grab zu aschen.

Natürlich waren nicht nur west-ostalgische Schwärmer in die ehemalige DDR gezogen, sondern vor allem Wiedervereinigungsarchitekten, Entwickler und Investoren, die längst dafür sorgten, dass sich zumindest die Bau- und Verwaltungslücken schlossen. Während die DDR Stück für Stück hinter frisch verputzten Fassaden verschwand, kaufte man eines Tages anstelle des Freitag wieder die Zeit, fand das zweite Buch von Judith Hermann schon nicht mehr so toll und langweilt sich tödlich in den Brecht-Inszenierungen der Hauptstadt. Gleichzeitig wächst das Angebot an Ostalgie-Shows und DDR-Devotionalien, an Rückblicksfilmen und Erinnerungsbüchern, und auch der Westen beginnt, in memoriam bundesrepublicae nachzulegen. Die emotional entfesselte Nostalgie scheint momentan in Folklore gebändigt.

Landflucht, Massenarbeitslosigkeit und Wohnungsleerstand, die aus den Augenwinkeln registrierte Erosion der Sozialstruktur in den neuen Bundesländern, lassen sich indessen nicht so leicht romantisieren, eher schon ignorieren. Und während sich ganz Osteuropa in den turbokapitalistischen Schleudergang katapultiert hat, den ein subkultureller Pelzkappen-Trash à la „Russendisko“ gerade noch ironisch kommentieren konnte, fährt man inzwischen ohne Gänsehaut und ganz schön ernüchtert durch die sanierte Ex-Stalinallee. Womit auch die West-Ostalgie, diese merkwürdige Erscheinung am Rande der Wiedervereinigung, kaum hervorgeholt, schon wieder in der Manteltasche der Geschichte verschwinden kann.

Gekürzter Vorabdruck aus „Ästhetik & Kommunikation“, Heft 122/123, das im Dezember unter dem Titelthema „Geschichtsgefühl“ erscheint, u. a. mit Beiträgen von Wolfgang Engler, André Kubiczek, Paul Nolte. Zu beziehen über: aesthetik@prkolleg.com