: Acht Quadratmeter Leben
aus Wolfenbüttel SANDRA LÖHRund CHRISTIAN WYRWA (Fotos)
Sie haben Glück. Und dieses Glück bedeutet hier eine Tür, die sich hinter dem schließt, der das Bad betritt: Eine Nasszelle mit Waschbecken, Klo und Dusche. Es ist ein Glück, das sehr klein ist für zwei Männer, und ein Glück, das gerade so eben Platz findet in dem schmalen Raum.
Heiko Sohrmann und Vadim Kura* wohnen zu zweit in einer Gefängniszelle, die eigentlich schon für einen zu klein ist. Ein Stockbett, ein Schrank, ein Tisch und zwei Stühle drängeln sich auf acht Quadratmetern. „Das hier, das ist wie der Eingang zur Hölle“, sagt Sohrmann. Er ist 47 Jahre alt, ein schlanker, höflicher Mann, der seit 18 Monaten in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel inhaftiert ist. Sein erstaunter Gesichtsausdruck verrät, dass er sich immer noch fragt, wie er hier eigentlich hineingeraten ist.
Dass es in Deutschland nicht selbstverständlich ist, einen eigenen Haftraum zu haben, und dass es nicht selbstverständlich ist, dass sich bei einer Doppelbelegung eine Tür hinter dem schließt, der die Toilette benutzen will, daran hätte er nie gedacht in seinem früheren Leben. Er hatte seine eigene Firma und wohnte mit seiner Frau und drei Kindern in einem Haus. Aber dann liefen die Geschäfte schlecht und er fing an zu tricksen, um das Unternehmen zu retten. Beim dritten Mal gaben ihm die Richter keine Bewährungsfrist mehr. Heiko Sohrmann musste wegen Betrugs ins Gefängnis – und saß während der Untersuchungshaft gleich mit vier Leuten in einer Zelle. Ohne abschließbare Toilette. „Das war erst mal ein Schock“, sagt er.
Jetzt sind es diese acht Quadratmeter, auf die sein Leben geschrumpft ist und die er sich mit Vadim Kura teilt. Kura ist 1,90 Meter groß und hat breite Schultern. Er kommt aus Bulgarien und wollte sein Glück in Deutschland mit Falschgeld machen. Nun sitzt er in der Mitte des Raumes wie ein gestrandeter Wal. Seine massige Gestalt trägt dazu bei, dass die Zelle mehr wie eine Theaterkulisse wirkt, bei der sich der Bühnenbildner mit den Maßstäben verrechnet hat. Vadim Kura sitzt am Tisch und knetet nervös seine Hände, und ab und zu zieht er so fest an seinen Fingern, dass man das Knacken der Knöchel hört und Angst hat, dass sie gleich abreißen könnten. Sagen will er nichts. Er lässt lieber Heiko Sohrmann reden.
Heulen in der Dusche
Seit ein paar Monaten verbringen die beiden fast 24 Stunden täglich zusammen. Sie ergänzen sich. „Vadim hat die Kraft und ich den Geist“, sagt Heiko Sohrmann knapp. Den Luxus, auf Sympathie oder Antipathie zu hören, können sie sich nicht leisten. Hier drinnen geht es darum, irgendwie zu zweit im Gefängnisalltag zurecht zu kommen.
Eigentlich stünde jedem von ihnen eine Einzelzelle zu. Da aber die Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel, so wie fast alle deutschen Gefängnisse auch, schon seit Jahren überbelegt ist, werden Gefangene hier „vorübergehend“ zusammengelegt. Zwar müssen die beiden Männer nicht mit einer frei stehenden Toilettenschüssel ohne Abtrennung in ihrer Zelle leben, wie es in älteren Gefängnissen durchaus vorkommt, aber trotzdem ist das Leben zu zweit auf engstem Raum manchmal nur schwer zu ertragen. „Man ist ja nie allein“, sagt Heiko Sohrmann. „Wenn man zum Beispiel einfach nur mal heulen will, dann ist die Dusche der einzige Ort, wo man das unbeobachtet tun kann.“ Könnten sie nicht jeden Morgen um 6 Uhr ihre Zelle verlassen, um in der Großküche zu arbeiten, wäre das Gleichgewicht zwischen ihnen beiden wohl schon umgekippt.
„Doppelbelegung kann grausam sein“, sagt Georg Caldenhoven. Er muss es wissen, er ist schon seit 1980 hier. Allerdings nicht als „Kunde“, wie er die Gefangenen manchmal scherzhaft nennt, sondern als Vollzugsbeamter, der sich hauptsächlich darum kümmert, dass Gefangene wie Heiko Sohrmann und Vadim Kura in ihrer Freizeit irgendwas Sinnvolles machen – etwa Sport.
In den 80er-Jahren, als Caldenhoven anfing hier zu arbeiten, war es noch anders. Nur ein paar Kilometer von Wolfenbüttel entfernt gab es die Grenze, die Europa in ein überschaubares Ost und West teilte und dafür sorgte, dass sich in deutschen Gefängnissen die Anzahl der Plätze mit der Anzahl der Gefangenen die Waage hielt. In der Mehrzahl saßen hier Deutsche ein und ab und zu jemand aus Indien, Pakistan oder einem afrikanischen Land. Heute, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Öffnung der Grenzen, sind es immer mehr Menschen wie Vadim Kura, die aus Osteuropa und den GUS-Staaten kommen und straffällig werden. Aber die ständig steigenden Gefangenenzahlen erklärt das nicht alleine. „Wenn es draußen schlechter geht, wird auch das Klima gegen die Gefangenen immer härter“, hat Georg Caldenhoven beobachtet. In den letzten Jahren wurde die Möglichkeiten für eine vorzeitige Entlassung erschwert, Gewalt- und Sexualverbrechen werden härter bestraft. Dazu kommen die Menschen, die wegen ihrer Drogensucht straffällig geworden sind. Das alles führt dazu, dass in der JVA Wolfenbüttel rund 500 Menschen leben, die sich die 360 Plätze teilen, für die das Gefängnis eigentlich gedacht ist.
„Wir versuchen ja den Dampf rauszunehmen und die Situation so erträglich wie möglich zu machen, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt, und sie sinken bei Überbelegung“, sagt der Gefängnisdirektor Dieter Münzebrock. Er sitzt in einem Nebentrakt in seinem geräumigen Büro. „Oft können wir die Leute nur nach dem Kriterium ,Raucher oder Nichtraucher‘ in eine Zelle zusammenlegen.“
Seine Aufgabe ist es eigentlich, dafür zu sorgen, dass Gefangene wie Heiko Sohrmann und Vadim Kura nach der Haft wieder eine Chance haben, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Aber zur Resozialisierung gehört auch, dass die Gefangenen im Gefängnis arbeiten und von ihrem Lohn etwas für die Zeit nach der Entlassung ansparen. Doch von den rund 500 Gefangenen in Wolfenbüttel haben nur 280 einen Job. Georg Caldenhoven sagt: „Die meisten entlassen wir so, wie sie hereingekommen sind.“
Ruhig durch Videospiele
Die arbeitslosen Gefangenen füllen die Zeit zwischen Frühstück und Schlafengehen stattdessen damit, dass sie den Fernseher einschalten oder Videospiele spielen, was seit 1999 auch offiziell in den Zellen erlaubt ist. „Natürlich ist das ein Ruhigsteller, und ich sage ihnen ganz ehrlich, dass es damit auch leichter geworden ist“, sagt Direktor Münzebrock, dem man ansieht, dass er darüber nicht glücklich ist. Er hofft, dass sich nächstes Jahr die Lage etwas entspannt. Dann sollen in Niedersachsen zwei neue Gefängnisse in Betrieb genommen werden. „Aber wenn die Gefangenenzahlen weiter so ansteigen, dann werden spätestens in ein paar Jahren auch diese aus allen Nähten platzen.“
Für Heiko Sohrmann und Vadim Kura ist es tagsüber leichter. Nach der Arbeit haben sie zwischen 16 und 17 Uhr die Freistunde draußen auf dem Hof, um den die vier Gebäude des Gefängnisses gruppiert sind. Bewacht von Justizbeamten, drehen die beiden mit den anderen Inhaftierten hier ihre Runden. Sie laufen im Kreis um die Blumenrabatten, das Volleyballnetz und das Schachbrett mit den großen Figuren herum, bis die eine Stunde wieder um ist und sie zurück müssen. In den frühen Abendstunden gibt es dann noch die Möglichkeit, in den Fitness- oder Schachraum auszuweichen. Aber abends nach 20 Uhr, wenn es auf den Gängen des Gefängnisses ruhig wird und man nur noch das Geräusch der gegeneinander schlagenden Schlüssel hört, mit denen die Beamten die Zellen für die Nacht abschließen, können sie sich nicht mehr aus dem Weg gehen. Dann legt sich Vadim Kura auf das untere Bett und schaltet den Fernseher ein, während sich über ihm Heiko Sohrmann, der die ganze Wand neben seinem Schlafplatz mit den Fotos seiner Familie gepflastert hat, die Bettdecke über den Kopf zieht. Dann versucht er, sich aus der Zelle wegzudenken, und dabei fallen ihm Sätze ein, die er zu Gedichten verarbeitet. „Menschenkäfig“ oder „Stacheldraht“ nennt er die, und irgendwann später, so hofft er, will sie vielleicht jemand da draußen drucken.
„Man sagt ja, das erste Jahr im Gefängnis überlebst du mit den Erinnerungen an draußen. Den Rest der Zeit vegetierst du nur noch dahin.“ Sohrmann hat noch zweieinhalb Jahre vor sich.
* Beide Namen geändert