Wenigstens Berliner

Ganz nah bei den Stars: Eine der nominierten Bands für den „MTV Europe Music Award“ erlebt „das Highlight des Jahres“ lieber vom Sofa aus

von SILVIA HELBIG

Die Spannung ist kaum noch auszuhalten. Schon seit Tagen dreht sich bei MTV alles nur noch um das eine: Die zehnte „MTV Europe Music Awards“-Verleihung. Dort dabei, der Weltelite des Pop ganz nah zu sein! Neben den White Stripes stehen, mit Coldplay anstoßen – und Pink ins Dekollete schielen …

„Nee, das ist mir zu stressig, für zwei Tage extra nach Schottland zu fliegen.“ So entspannt sieht Pierre Baigorry, einer der Sänger der Berliner Dancehall-Band „Seeed“, den ganzen Rummel. Also kein Schampus in Edinburgh. Rotwein und Bier in Berlin-Friedrichshain stehen stattdessen heute Abend auf dem Programm. Obwohl „Seeed“ selbst in der Kategorie „Best German Act“ nominiert ist, war bis kurz vorher noch nicht mal klar, wo und ob die Veranstaltung überhaupt geguckt wird.

Die Wohnung des Tourmanagers ist schließlich der Treffpunkt. Nach und nach trudeln die Bandkollegen ein, in einem Arm die Freundin, im anderen die Getränke. Richtig aufgeregt ist keiner. Falls die elfköpfige Mannschaft sich wirklich gegen die Konkurrenz „Die Ärzte“, „Guano Apes“, „Wir sind Helden“ und „Xavier Naidoo“ durchsetzen sollte, wären immerhin die Bandmitglieder Frank und Alfie vor Ort, um den Pokal in Empfang zu nehmen.

Pünktlich um 21 Uhr beginnt die Show in Edinburgh. 6.000 Fans sind vor Ort, in 50 Länder wird live übertragen. Es geht los mit einem Auftritt der Destiny’s-Child-Sängerin Beyoncé und des Rappers Sean Paul. Viele Tänzer, sie im kurzen Fummel, er mit einem kurzen Rap-Part – zack, nächster Act. Wie auf einem Fließband rattern die Top-Acts vorbei. „Seeed“ kommentieren fachmännisch: „Die singt ja nur Playback“ (Beyoncé), „cool!“ (Missy Elliot), „überbewertet“ (White Stripes), „abgefahren!“ (The Darkness) „krasser Live-Act“ (die vier unbeweglichen Statuen von Kraftwerk), „schon wieder Justin“ (der große Gewinner Justin Timberlake), und „ganz schön langweilig mit der Zeit“ (die ganze Veranstaltung).

Rechts auf dem Sofa wird mittlerweile heftig geknutscht. Die Jungs von „Seeed“ sind gerade erst von ihrer Europatournee zurück. Den obligatorischen Skandal der Veranstaltung bekommen die meisten der Anwesenden darum nur am Rande mit. Wir erinnern uns: Bei der amerikanischen Version der Awards hatte Madonna mit Britney Spears geknutscht. (So richtig, mit Zunge.)

Das Skandälchen der MTV Europe Awards liefert die schottische Gruppe „Travis“: Ein Haufen Freunde der Band kommt während des Auftritts nackt auf die Bühne, um gegen den Krieg im Allgemeinen zu protestieren. Gut gemeint, doch der subversive Akt wirkt in diesem Rahmen nur wie eine weitere belanglose Inszenierung.

In Berlin kommt plötzlich wieder Leben in die Bude: Trompeter Moritz hat kurz weiter gezappt, und jetzt gucken alle Dortmund gegen den FC Sochaux. Glänzende Augen, anfeuernde Rufe, gespannte Sitzhaltung. Nur unter Protest wird zurückgeschaltet. Gerade rechtzeitig: Die Nominierungen für den besten deutschen Act. Der Sieger wurde von den deutschen Fans per SMS und Internet gewählt. Jetzt kann man die Luft vor Anspannung doch fast sirren hören. Und es sind: „… die Ärzte!“ Kurzes Ausatmen, dann die Kommentare: „War ja klar!“ und „wenigstens Berliner“.

Doch was ist das? Keiner der Gewinner kommt auf die Bühne. Stattdessen eine Videobotschaft: „Konnten leider nicht da sein, wegen Videodreh. Freuen uns riesig. Danke an die Fans.“ Die Ärzte sind also auch nicht in Edinburgh! Alles klar. Es geht wohl nichts über einen schönen Fußballabend.