Das Glück des Sisyphos

Vom beobachtenden Subjekt zum Objekt der Beobachtung: Eine Begegnung mit dem Schriftsteller Wilhelm Genazino, dem heute Abend in Darmstadt der Georg-Büchner-Preis 2004 verliehen wird

„Ich fühle mich noch immer als randständiger Autor, der ins Zentrum geschubst worden ist“ Seine Romane sind Bücher über das Scheitern, die Schönheit, das unbedingte Künstlerseinwollen

VON GERRIT BARTELS

In seinem Aufsatz „Der gedehnte Blick“ vermutet Wilhelm Genazino, „jederzeit verfügbare Lustigkeit gehört genausowenig in unser Leben wie (nach Freud, nach Focault) das ‚Glück‘“. Tatsächlich sieht ein glücklicher oder wenigstens ein zufriedener Mensch anders aus als Wilhelm Genazino an diesem Montagabend im Foyer des Berliner Hotels Maritim pro Arte. Mürrisch und erschöpft wirkt er, wie er da auf den Fahrstuhl wartet, ein paar Schweißperlen stehen auf seiner Stirn, und dass jetzt wieder ein Termin ansteht, scheint ihm nicht zu behagen. Seit sechs Uhr morgens sei er unterwegs, sagt er bei der Begrüßung, „und alles klappt gerade so auf die Minute“.

Eine öffentliche Anhörung im Bundestag hat Wilhelm Genazino nach Berlin geführt, als „Experte“ einer Enquetekommission sollte er Fragen beantworten zum Thema Kulturförderung und berichten darüber, wie es mit der Förderung im Bereich der Literatur steht. „Ziemlich mau“, befindet er später, die Stipendiengeber seien zu mutlos, zu risikoscheu, zu wenig geduldig: „Es liegt da ja kein Gegengeschäft vor: Geld gegen Werk. Wer ein Stipendium vergibt, muss mit einkalkulieren, dass die Sache nicht immer klappt und nicht immer ein großer Roman oder ein großes Gedicht das Resultat ist. Man kann ja Kultur nicht pressen.“

Begleitet wird Genazino an diesem Tag von einem Fernsehteam des Hessischen Rundfunks, das dankbar ist, ihn einmal so richtig in Aktion erleben und filmen zu können: bei einem öffentlichen Auftritt, bei einem Interview – und bei einem Besuch des Hotels Askanischer Hof, den sich der Kafka-Verehrer Genazino anderntags nicht entgehen lässt, da Kafka hier seine Verlobung mit Felice Bauer gelöst hat.

Viel Trubel also für einen Schriftsteller, der Anfang der Neunzigerjahre in dem Roman „Die Liebe zur Einfalt“ seinen Erzähler davon schwärmen ließ, „daß es außer dem Leben immer auch die Betrachtung des Lebens gab und daß das Verhältnis der Betrachtung zum Betrachteten eine Form der Erholung war“. Und der jetzt oft genug selbst das Objekt der Betrachtung ist und „als randständiger Autor, als der ich mich noch immer fühle, durch allerlei Ehrungen ins Zentrum geschubst worden ist“.

Allerdings weiß Wilhelm Genazino mit diesem plötzlich erwachten Interesse an sich und seinen Büchern professionell umzugehen. Keine Spur von Sonderbarkeiten oder Geziertheit. Der erste Eindruck, es mit einem mürrischen, gestressten Autor zu tun zu haben, täuscht. Zum einen nimmt Genazino mit viel Gleichmut die Rundumbetreuung durch die Fernsehleute hin; auch kleine Szenen, die er für sie wiederholt spielen soll, absolviert er ohne Murren, wie etwa unsere gestellte Begrüßung am Hoteleingang.

Zum anderen ist er während des mehrmals unterbrochenen Gesprächs sympathisch offen und auskunftsbereit, spricht er über die Unlust am Repräsentieren und die Überlebtheit des Großschriftstellers genauso gern und ausführlich wie über seine Bewunderung für einen Autor wie Wolfgang Hilbig. Und er spricht natürlich davon, dass er genauso „verblüfft“ wie „bezaubert“ gewesen sei, als im Juni die Wahl für den Büchner-Preis 2004 durch die Jury der Darmstädter Akademie auf ihn fiel. Aber auch, dass sich kleine Panikattacken eingestellt hätten: „Einfach weil ich nicht weiß: wieso? Die Bücher, die ich jetzt schreibe, ähneln denen vor 15 Jahren.“

Damals übte Genazino mit dem Buch „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ eine Art zweiten schriftstellerischen Anlauf, nachdem er die zweite Hälfte der Achtzigerjahre kein Buch veröffentlicht hatte und auf der Suche nach neuen literarischen Formen war. Stand seine in den Siebzigerjahren entstandene „Abschaffel“-Trilogie noch in einer realistisch-engagierten Tradition, machte diese ihn zum Proto-Autor des Angestelltenromans, so waren die Nachfolger „Die Ausschweifung“ (1981) und „Fremde Kämpfe“ (1984) zerrissene, stilistisch zwischen einer handlungsbetonten Erzählung und vielerlei Reflexionen pendelnde Romane.

Mit der „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“, einem entschlossenen, aus lauter Prosaminiaturen bestehenden Künstlerroman, fand Genazino seine Form wieder und zäumte Ansätze einer neuen Poetologie auf: „Was wir brauchen, ist eine Theorie der Verborgenheit. Der Grundgedanke könnte sein, daß das Subjekt die Gesellschaft beobachten darf, diese aber nicht das Subjekt“, heißt es dort an einer Stelle – ein Plädoyer für das Verschwiegene, das Verborgene, für das frei umherschweifende In-sich-Aufnehmen der Außenwelt, für die Introspektion, nicht zuletzt für die lang andauernde, präzise Beobachtung der Dingwelt.

Im Folgenden veröffentlichte Wilhelm Genazino wieder regelmäßig kleine Romane voller Weltbeschau und Selbstreflexion, voller Sinnsuche und Kontemplation, voller Trostworte und Glücksmomente für den Leser. Künstler- und Entwicklungsromane, Bücher über das Scheitern, über die Schönheit, über das unbedingte Künstlerseinwollen; Bücher, die erst 2001 durch die Entdeckung des Literarischen Quartetts von „Ein Regenschirm für diesen Tag“ ein größeres Publikum bekamen.

Bis dato aber verschränkten sich Genazinos Credo von der Verborgenheit und das mangelnde Interesse an seinen Büchern aufs überzeugendste, und Genazino sah sich veranlasst, durchaus nicht unzufrieden mit seiner Randständigkeit, in einem Essay ein Lob des Scheiterns anzuheben: „Im Scheitern wird das Biografische selber reflexiv, allmählich bildet sich eine zusammenhängende Lebenserzählung, eine Innenwelt-Perspektive, eine nicht mehr abbrechende Sinn-Erwägung, kurz: es bildet sich Identität. Durch das momentweise (oder längere) Ausbleiben des Erfolgs, der Zuversicht oder der Kraft treten wir der herrschenden Glücksucht entgegen.“

Bevor Wilhelm Genazino jedoch in dem irgendwie trostlosen, für viele seine Protagonisten wie geschaffenen Foyer des Maritim pro Arte über seine größten Misserfolge Auskunft geben kann, fordern seine drei Begleiter vom Hessischen Rundfunke schon wieder ihren Tribut; es gilt, die Begrüßungsszene zu komplettieren, und der wohlbeleibte, gewohnt dunkel gekleidete Genazino erhebt sich schwerfällig aus seinem Sessel, um so zu tun, als führe er wie ein Gastgeber seinen Gesprächspartner zu einer Sesselgruppe. Ohne sich aber groß abgelenkt zu geben, fährt er fort, seine schriftstellerischen Aufs und Abs reflektierend: „Ich rechne mit überhaupt nichts. Ich gehöre nicht zu den Autoren, die im Stillen auf einen Preis hoffen oder glauben, diesen oder jenen Preis verdient zu haben.“ Insofern mag er nach der Bekanntgabe des Büchner-Preises Anflüge von Panik verspürt haben und einem gewissen „Unglauben“ aufgesessen sein. Stärker ausgeprägt aber ist bei ihm die Gewissheit, mit der eigenen Hochkonjunktur nicht nur umgehen zu können, sondern sich von dieser im Hinblick auf sein Schreiben nicht beeinflussen oder gar unter Druck setzen zu lassen: „Ich mache nichts anderes als sonst auch: von morgens halb acht bis mittags um zwei schreiben. Danach laufe ich herum und mache Erledigungen, um dann wieder die Schreibarbeit für den nächsten Tag vorzubereiten. Erfolg ist schließlich so ein Gummikriterium, und das Werk, das heute in aller Munde ist, von dem kann man in 20 Jahren schon wieder denken: Mein Gott, so reißerisch war das auch wieder nicht.“

Ihn treiben andere Ängste um, als eines Tages kein so gefragter Autor mehr zu sein oder dem Büchner-Preis nicht gerecht werden zu können: etwa die Angst, mit einem Buch nicht fertig zu werden. Oder eben das eine, wirklich perfekte Buch einfach nicht hinzukriegen. Ohne große Einschränkungen ist auch für Genazino die Drohung, die sein Erzähler aus „Die Liebe zur Einfalt“ beim Betrachten eines Bildes von Marguerite Duras und ihrer Mutter empfindet, weiterhin aktuell: „die Drohung, daß wir unsere eigene Geschichte immer wieder erzählen müssen und nach jedem Erzählen glauben, wir hätten sie noch nicht richtig erzählt. So fangen wir immer wieder von neuem an, unsere Geschichte zu erzählen, ohne je der noch viel fürchterlicheren Gewißheit zu entgehen, daß wir sterben werden, ohne unsere Geschichte wenigstens einmal vollständig und vollständig richtig erzählt zu haben.“

Das aber, fügt er an, gehöre nun mal zum modernen Leben, diese Art von Vergeblichkeit sei dem Menschen „organisch angegliedert“ und führe dazu, dass ein Schriftsteller immer wieder Bücher und immer wieder auch dieselben Bücher schreiben würde. Und bei dieser Aussage macht Wilhelm Genazino einen zufriedenen und alles andere als unglücklichen Eindruck.