: Ich, Welt, Gesellschaft
Teddy, der Inkommensurable (11): Im gegenwärtigen Adorno-Jahr lässt sich die Theorie ganz praktisch verwerten – als großes Kulturbetriebsgewimmel. Wer noch in den eher praxisfernen Achtzigern Geisteswissenschaften studiert hatte, dem kann das manchmal als umfassendes So-tun-als-ob erscheinen
von DETLEF KUHLBRODT
Wenn man auf das schöne Adorno-Jahr zurück- und seinem eigenem Studium hinterherblickt, hat man einen komischen Kulturbetriebseindruck. Viel wurde veröffentlicht, verkauft, geriet wieder in Umlauf, vermutlich gab’s auch mehr Adorno-Uni-Seminare als sonst. Die Werke des Philosophen bildeten aber den geringsten Teil dessen, was unter dem Label Adorno umgesetzt wurde. Vor allem waren es Bücher biografischer Natur, Zeitungsartikel, Radio- und Fernsehfeatures, allerlei Kongresse und Festveranstaltungen. Ziemliches Kulturbetriebsgewimmel, auch großes So-tun-als-ob, in dem vermutlich diejenigen, die sich am wenigsten mit dem Werk Adornos beschäftigt haben, am meisten an seinem Namen verdienten (verrechnet man Aufwand und Bezahlung).
Das sind dann Leute wie der Verfasser dieses Spiegel-Artikels, der davon handelte, dass Adorno es gerne mit Nashörnern getrieben hatte (stimmt ja gar nicht, Spaß beiseite). Wutschnaubend möchte man hinzufügen, dass solche Leute dem dänischen Existenzphilosophen Sören Kierkegaard dann auch noch ein witzig gemeintes, tatsächlich aber denunziatorisches und von Ressentiment gegen alles Intellektuelle getragenes „Erzgrübler“ in die Klammer hinter seinen Namen setzen.
So ist es halt oft in der Produktion von fast allem in den so genannten Geisteswissenschaften, dass der Umsatz wächst, je größer die Entfernung zum eigentlichen (Entschuldigung!) Werk ist. Das Werk wird so etwas undeutlich. Eine Banalität, die man in Sachen Adorno aber noch mal hervorheben möchte, da es sich durchaus um einen schwierigen Denker handelt – dessen Schwierigkeit möglicherweise in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu der Einfachheit stand, mit der viele Studenten der kritisch-theoretisch geprägten Geisteswissenschaften in den Siebzigerjahren ihren Abschluss erlangten. Um vulgäradornitisch eine Weile dann noch fortzuwesen. („Grummel, grummel“, kommentiert es von innen eingedenk eines passenden Satzes aus der „Dialektik der Aufklärung“: „Jedes Tier erinnert an ein abgründiges Unglück, das in der Urzeit sich ereignet hat.“)
Zur Kompliziertheit Adornos gibt es eine hübsche Stelle bei Eckard Henscheid: „Als Horkheimer 1953 nach seiner Bestallung als Rektor der Universität Frankfurt mit Theodor Heuss Brüderschaft trank, geschah es plötzlich, dass Heuss auch nach einer Kurzdarstellung der Intentionen der Kritischen Theorie fragte. Horkheimer versuchte sein Bestes, aber schon nach zwei Stunden unterbrach ihn Heuss lachend: ‚O du liab’s Herrgottle von Biberach!‘“ (aus: „Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte“).
Das Merkwürdige am Adorno-Jahr ist also: Einerseits gibt es diese riesige Produktion am Rand eines Werks, das, wenn ich mich richtig erinnere, aufs Ganze geht. Andererseits beschränkt sich die Zahl derer, die sich ernsthaft mit Adorno beschäftigen und auskennen, doch eigentlich auf wenige: Studenten, Hochschullehrer, Angestellte im Adorno-Archiv, ein paar Intellektuelle. Und die Studenten machen Adorno auch noch größtenteils, so denk ich mal, im Modus des So-tun-als-obs, weil die Kritische Theorie halt in ihrem Studienplan drin ist; das muss ja auch studiert sein, selbst wenn andere Denker sich zurzeit besser zur Welt- und Ichbeschreibung eignen bzw. gemocht werden.
Aber ist das jetzt vielleicht wieder zu beckmesserisch. Sobald man nicht wirklich intime Kennerschaft erwartet, ist der Kreis der Adorno-Adepten jedenfalls wohl gar nicht so klein und würde möglicherweise sogar die Schalker Arena füllen. Es macht ja auch sehr viel Spaß und ist wunderbar, die Adorno-Hits zu lesen – die „Dialektik der Aufklärung“, einführend die Aufsätze aus „Eingriffe“ oder die „Minima Moralia“ (gerade in diesem tollen Reprint der Ausgabe von 1951). Das sind äußerst präzise, melancholisch-realistische Romane mit tollen Stellen, die man sofort unterstreicht, weil sie so treffend sind.
Denen, die meinen, es sei so wahnsinnig wichtig, ständig eine Meinung zu haben, würde man gerne sagen: „Die logische Form des Urteils, gleichgültig ob richtig oder falsch, hat in sich etwas Herrschaftliches, Verfügendes, das dann in der Insistenz auf Meinungen als auf einem Besitz sich widerspiegelt. Überhaupt: eine Meinung haben, urteilen, dichtet sich schon in gewisser Weise gegen die Erfahrung ab und tendiert zum Wahn, während andererseits doch nur der zum Urteil Fähige Vernunft hat: das ist vielleicht der tiefste und untilgbare Widerspruch im Meinen.“ („Meinung Wahn Gesellschaft“, Vortrag von 1960)
Und den Verkündern des Endes der Ironie, das vor ein paar Jahren ausgerufen wurde, hätte man gerne mit folgendem Zitat aus der letzten größeren Arbeit Adornos geantwortet: „… je vernünftiger das Werk seiner Form nach, desto alberner nach dem Maß der Vernunft in der Realität. Seine Albernheit ist jedoch auch ein Stück Gericht über jene Rationalität; darüber, daß sie in der gesellschaftlichen Praxis sich zum Selbstzweck geworden, ins Irrationale und Irre umschlägt, in die Mittel für Zwecke. Das Alberne an der Kunst […] und die Torheit der verabsolutierten Rationalität verklagen sich gegenseitig; übrigens hat Glück, der Sexus, aus dem Reich der selbsterhaltenden Praxis gesehen, ebenfalls jenes Alberne, auf das, wer von ihm nicht getrieben wird, so hämisch hindeuten kann.“ („Ästhetische Theorie“, Seite 181)
Ich wollte aber noch ganz woanders hin. Nämlich zu dem Verhältnis von Theorie und gesellschaftlicher Praxis, mag sie auch nur im Reden bestehen. Also: Während des Studiums an der Berliner FU Ende der Achtzigerjahre war Adorno einerseits schon ein bisschen passé und eh fanden alle Walter Benjamin natürlich besser, wohl wegen seines Selbstmordes auf der Flucht und weil er so nett und melancholisch aussah. Andererseits war Adorno auch noch in den Achtzigern und Neunzigern stets präsent, nicht nur thematisch, sondern via Dozenten, die bei ihm studiert hatten und von ihm geprägt waren. Zumindest an seiner Begrifflichkeit kam niemand vorbei, also: Verblendungszusammenhang, negative Dialektik, böse Kulturindustrie und „die Weltgeschichte, deren Rhythmus zunehmend dem der Katastrophe sich anähnelt“.
Es handelte sich, glaube ich, um eine theoretische Zwischenzeit, in der Post- und Strukturalismus und Kritische Theorie in der Uni und unseren Köpfen miteinander konkurrierten, ohne dass dabei eine Begrifflichkeit entstanden wäre, die tatsächlich zu der Zeit gepasst hätte. Das hatte den Vorteil einer relativen Offenheit und den Nachteil einer gewissen Sprachlosigkeit, die sich auf eine – wie soll man sagen? – fast anrührende Weise niederschlug in autonomen Seminaren in besetzten Instituten. Während des Studentenstreiks 1988/89 fanden sie in Berlin auch an dem damals von seiner Abwicklung bedrohten „Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“ statt; natürlich wurden in ihnen sofort die ganz grundsätzliche Selbstverständnisfragen verhandelt. An diesen Seminaren nahmen Studenten aller Altersgruppen teil; angesichts des Adorno-Jahres fielen sie mir wieder ein. In der Festschrift zum 65. Geburtstag der adornitisch geprägten Literaturwissenschaftlerin Hella Tiedemann-Bartels („Kritik der Tradition“; Königshausen & Neumann, 2001) hat die ehemalige Kommilitonin Sabine Jainski Stundenprotokolle eines Seminars veröffentlicht, in dem es anhand eines Artikels von Mathias Greffrath um „Kulturtheorie“ und was das alles überhaupt soll ging. Einige der damaligen Teilnehmer sind jetzt in den Medien, andere am Theater.
„Protokoll vom 7. 12. 88
Anna: Wir brauchen Konzept für Gesellschaft, Legitimation.
Achim: Legitimationszwang.
Hella: Wir arbeiten nicht nur aus Spaß.
Achim: Warum nicht?
Anna: Man kann nicht grundsätzlich genug fragen!
Achim: Sinnfrage ist nicht gleich Legitimationsfrage, wem gegenüber? Gegenüber uns selbst.
Hella: Wer sind wir selbst?
Achim: Die Würde des Gegenstands steckt in der Zwecklosigkeit.
Hella: Zwecklosigkeit kann legitimiert werden […]
Wolfram: Kantische Zweckmäßigkeit, am Begriff Zwecklosigkeit arbeiten.
Achim: Zwecklosigkeit als (höherer) Lebensmodus, als Lebensäußerung […].
Hella: […] Fach ‚ohne Inhalte‘ als Chance.
Doja: Wir sind doch Elite in vier Wänden.
Hella: Eliteschule für Frauen, für zwecklos, für Elfenbeinturm, gegen Elite […].
Ralf: Elite ist Heckelmann, Weizsäcker, Macht; die Leute wenigstens verbal in den Dreck stampfen, falls uns mal so ’ne Fratze begegnet […].
Hella: Kulturbetrieb hat (faulige) Aura, das ist chic; dagegen arbeiten, die Leute für den Kulturbetrieb verderben, hart desillusionieren.
Achim: Rede von der fauligen Aura ist denunziatorisch, es ist doch der einzige Ort von Lebendigkeit.“
Eine andere Stelle:
„Protokoll vom 12. 12. 88
Hella: Über Inhalte Studenten für den Kulturbetrieb verderben.
Friederike: […] wir sind von Scheinkultur umgeben, Strukturen durchblicken: wie kann sich die Scheinkultur als offizielle Kultur durchsetzen?
Yvonne: Ist Kultur nicht schon obsolet? Ist das noch vorhanden, was wir aufrechterhalten wollen […].
Konstantin: Ich bin gegen Finanzierung von Literatur, Literatur ist für mich heute ein ziemliches Gespenst. […]
Yvonne: Du fragst: wie machen wir Kultur? – das ist problematisch.
Stefan: Meinst du, wir befinden uns nicht mehr in einer Kultur? […]
Hella: Kultur war immer ein schlimmes Ding.
Harald: Musik und Kunstwerke werden heute nach der Dauer der Herstellung bezahlt.
Sarah: Ist Kultur ein Grundbedürfnis des Menschen? Wenn ja, muss Kultur eine politische Funktion haben in Form eines Sich-Einbringens, gibt es ein Grundbedürfnis Kultur, oder ist es nur ornamental, verzichtbar? Anna: Nicht ornamental, denn was sich vermarkten lässt, ist nicht Kunst.
Hella: Kulturindustrie lebt vom Bedürfnis nach Ausdruck, nur als Befriedigung eines Bedürfnisses kann sie als Tranquilizer wirken. An der Stelle müsste Reflexion auf den Betrieb einsetzen, der einem Bedürfnis entgegenkommt, aber mir das Bedürfnis fremd macht und mich kaputt macht.
Sabine: Will nicht so weit gehen mit der Individualität wie Adorno: Individuum nennt sich so als Beschwörungsformel gegen seine Zerschlagung.
Hella: Was wäre die Kraft, die uns der Vereinnahmung entzieht?“
Diese Seminare waren schön. Gerade in der nichtabgedichteten Sprache leuchtete das lebendige Interesse an den Fragwürdigkeiten einer Kultur, die sich anders darstellt als bei Adorno noch, mag sie sich auch genauso fraglos aufblähen.
Einerseits sollte es damals um alles gehen; andererseits um den unverfügbaren Rest – irgendwie hatte das etwas ganz Heroisches. Das Studium sollte etwas sein, das sich den so genannten Verwertungszusammenhängen entzog, das seinen Wert in sich tragen sollte. Deshalb haben wir es auch überhaupt nicht gut gefunden, wenn Dozenten Veranstaltungen anboten, die irgend etwas mit Berufsfeldern zu tun hatten. Das System war böse; doch so zu tun, als gäbe es einen Praxisbezug, schien uns übles So-tun-als-ob zu sein (so wie eben manches am Adorno-Jahr). Außerdem sollte das Studieren etwas mit uns zu tun haben. Mit Ich, Welt und Gesellschaft, die wir meinten, durch fleißige Lektüre besser lesen lernen zu können. So ähnlich ging’s vermutlich vielen geisteswissenschaftlichen Studenten in dieser Zeit, und manchmal sehne ich mich zurück.