: Zähne zeigen
DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY
Mir träumte kürzlich, ich sei beim Zahnarzt, der mir einen rückwärtigen Zahn des Unterkiefers ausbohrt. Er arbeitet so lange herum, bis der Zahn unbrauchbar geworden ist. Dann fasst er ihn mit einer Zange und zieht ihn mit einer spielenden Leichtigkeit heraus, die mich in Verwunderung setzt. Er sagt, ich solle mir nichts daraus machen, denn das sei gar nicht der eigentlich behandelte Zahn, und legt ihn auf den Tisch, wo der Zahn (wie mir nun scheint, ein oberer Schneidezahn) in mehrere Schichten zerfällt. Ich erhebe mich vom Operationsstuhl, trete neugierig näher und stelle interessiert eine medizinische Frage. Der Arzt erklärt mir, während er die einzelnen Teilstücke des auffallend weißen Zahnes sondert und mit einem Instrument zermalmt (pulverisiert), dass das mit der Pubertät zusammenhängt, und dass die Zähne nur vor der Pubertät so leicht herausgehen; bei Frauen sei das hiefür entscheidende Moment die Geburt eines Kindes. S. Freud: „Die Traumdeutung“
Am Anfang des neuen Zauberfilms von Coen & Coen, „Incredible Cruelty“, erkennt man in einer unverständlich blauen Höhle die Zähne von George Clooney – „er schaut aus wie Clark Gable, aber er spielt wie Cary Grant.“ Er lasse sich gerade die Zähne bleichen, hören wir Clooney frech erklären, und in späteren Szenen sehen wir ihn immer wieder stolz die Zähne zu einem Raubtierlächeln fletschen, was stets zur Erheiterung beiträgt.
Mein alter Freund Achim, der Redakteur, grinste dazu nur geschmerzt. Ihn plagt seit Monaten seine eigene Zahngeschichte – in der sich, mit ein bisschen Anstrengung, der Stand der Zivilisation erkennen lässt.
Es geht um einen hinteren Backenzahn im Oberkiefer, seit Jahren tot, entkernt und mit Gold überkront. Nicht in diesem Zahn selbst (dem ja Nerv und Leben fehlen), aber um ihn herum begann sich allmählich eine Art Schmerz-Feld aufzubauen. Auf der Rückfahrt von den Winterferien, mit Frau und Hund im Auto, entstand seitlich im Kiefer eine richtige Beule, und Achim beschloss, am nächsten Tag gleich sich als Notfall beim Zahnarzt anzumelden. Am nächsten Tag hatte sich die Beule verzogen.
Von Kindheit an erzeugen die Zähne eigene Schrecken. An ihrer Gesundheit und an ihrem Aussehen hängen hohe Prestigewerte. Achim, dem Redakteur, schlug ein geschäftstüchtiger Zahnarzt einst Jacketkronen vor, die seien sozusagen Werbeträger für seine Persönlichkeit. Aber der Redakteur verwies darauf, dass er den ganzen Tag statt vor Leuten über Manuskripten sitze, so könne er sich das gewinnende/einschüchternde Raubtierlächeln sparen. Achim wechselte den Zahnarzt.
Die Schneidezähne zeigten, wie viele Zigaretten er täglich rauchte, und so begann er, beim Lächeln den Mund nur noch sparsam zu öffnen. Zur selben Zeit ging seinem Freund Dr. Kroll, Kunsthistoriker, ein Schneidezahn richtig verloren, und sie philosophierten beim Schwimmen darüber, wie eine solche Lücke unweigerlich Verrotten anzeige, „als wären die Schneidezähne eine schimmernde Wehr, in der jetzt eine Lücke klafft, durch die der Feind einmarschieren kann, ohne auf Widerstand zu stoßen“.
Kehren wir zum gegenwärtigen Schmerz zurück. Er trieb Achim, den Redakteur, nach erfolglosen Aspirinkuren dann doch zu seinem Arzt, einem ungemein zartfühlenden Herrn türkischer Abstammung. Achim, der Redakteur, wusste genau, was ihm bevorstand. Der Arzt würde ihn ziehen, den toten Zahn mit der Goldkrone.
Seinerzeit, als der Zahn getötet wurde – um gerettet und überkront zu werden –, vor ungefähr 20 Jahren hatte der Arzt (ein anderer) erklärt, dass man das eigentlich nicht mache, tote Zähne vergolden. Tatsächlich verband Achim – noch mal zehn Jahre zurück – damit auch die schlechtesten Erinnerungen. Da war nämlich ein Zahn, den der Arzt seiner Kleinstadtherkunft ebenso präpariert hatte, unter dem Gold einfach verfault und eines Tages abgebrochen, wobei er seinen Pestilenzgeruch verströmte (was einen jungen Mann, der stets um seine Attraktivität besorgt ist, verstört). Den Stumpf zu extrahieren machte schwere Grab- und Hebelarbeiten notwendig, die noch Tage später neben dem Wundschmerz als eine Art Muskelkater zu spüren waren.
Keineswegs empfahl der höfliche Türke jetzt Achim, dem Redakteur, das Ziehen, die einfache Entfernung des Problems. Schon die Diagnose desselben erwies sich als lehrreich. Eine Entzündung im Kieferknochen, deren Hartnäckigkeit, so der höfliche Zahnarzt mit besonderer Sanftmut, sich aus dem Alter Achims erkläre. Bei einem jüngeren Mann wäre sie längst von selber abgeheilt. In dem mal dunkel, mal hell brennenden Schmerz konnte Achim, der Redakteur, also den Tod bei seiner Arbeit erkennen, die sich ohnedies in vielen Zipperlein meldete, steifen Gelenken beim Aufstehen, Ungeschick beim Bücken, einem verknacksten Knie, das sich gleichfalls weigerte, von allein zu gesunden, und, geben wir es zu, Herzrhythmusstörungen. Sich durch welche Maßnahmen immer Naddels Zähne herbeizubleichen, das würde an der unwiderruflichen Todesverfallenheit Achims, des Redakteurs, also wenig ändern, im Gegenteil, es würde diese Todesverfallenheit besonders herauspräparieren, wie Dirk Bogarde exemplifizierte, ich meine Gustav Aschenbach, nachdem er sich Tadzios wegen hat aufhübschen lassen.
Apropos. Thomas Buddenbrook stirbt bekanntlich an einem Zahn, und es besteht kein Zweifel, dass das Gebiss – neben Bauch, Herz und Kopf – im Zentrum des Lebens sich befindet. Gleichzeitig ist der Tod durch den Zahn ausgemacht kläglich.
Genau erinnert sich Achim, der Redakteur, daran, wie seinem alten Vater die letzten Zähne gezogen wurden. Brücken und Teilprothesen versagten, man musste auf ein vollständig künstliches Gebiss umschalten. Mutter begleitete das tief gedemütigte Familienoberhaupt zur Operation und suchte es zu trösten. Ohne Erfolg. Der zitierte Traum und viele andere lehrten Freud, dass du es als Entmannung erlebst, wenn dir Zähne gezogen werden; und keine Aussicht auf eine Prothese befriedet.
In unbewusster Identifikation mit seinem Vater, dessen Demütigung er mitansehen musste – würde der Psychoanalytiker sagen –, neigte Achim von Jugend auf dazu, seine Zähne verkommen zu lassen. Stets erwartete er, früh ein Gebiss zu benötigen (man kann auch die Schuldgefühle eintragen, die ihm, dem jungen, der Triumph über den alten Mann bescherte).
Aber hier machte die Zivilisation Achim, dem Redakteur, einen Strich durch die unbewusste Rechnung. Obwohl er seinen Zähnen keine anhaltende Sorge widmete, brachten sie die Zahnärzte immer wieder auf Vordermann, dank der kontinuierlichen Fortschritte ihres Handwerks.
Jener Entzündungsherd freilich, in dem das Altern und die Arbeit des Todes sich als Schmerz anzeigen, brennt immer noch. Im Augenblick zeigt der sanftmütige türkische Arzt keine Anzeichen von Kapitulationsbereitschaft und kämpft unverdrossen mit Medikamenten. Es mag aber sein, dass irgendwann der Tag der Extraktion kommt – wie sollte es anders sein, wenn der Entzündungsschmerz darstellt, wie viel von Achims, des Redakteurs, Lebenszeit schon vergangen ist.
Fotohinweis: Michael Rutschky lebt als Publizist in Berlin