: Die Würde des geschändeten Leibes
In der Heilig-Kreuz-Kirche wurde um den Lehrer Joe R. getrauert. Er wurde Opfer eines Sexualmordes
Es war ein normaler Trauergottesdienst. Vor dem Altar der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche stand die Urne. In einem Kreis brannten darum herum 33 bunte Kerzen. So alt ist Joe R. geworden. Das Mozart-Requiem, das der Schulchor sang, hatte der Musiklehrer vor seinem Tod mit den jungen Musikern geübt. Viele Schüler der Waldorf-Schule in Mitte waren gestern gekommen, Lehrer, Verwandte, Angehörige. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt.
Es war ein normaler Trauergottesdienst. Und zugleich war es ein Zeichen. Der beruhigend ruhige Abschied muss trotz der Trauer etwas Heilsames gehabt haben für die Familie und für Joe R.s Lebenspartner, nach allem was passiert war in den vergangenen Wochen.
„Dieser Tod“, sagte der Pfarrer Jürgen Quandt, „führt uns an die Grenzen menschlicher Existenz, vor denen uns schaudert.“ Er sprach von einer „schrecklichen Untat“, von einem „barbarischen Akt“, vom „Unfassbaren“.
Joe R. wurde am 4. Oktober umgebracht. Er kannte den Täter, einen 41 Jahre alten, arbeitslosen Maler aus Neukölln. Sie hatten wohl übers Internet Kontakt aufgenommen. Dreimal verabredeten sie sich zu sadomasochistischen Sex-Spielen. Beim dritten Mal starb Joe R. Man möchte eigentlich gar nicht allzu viel wissen über die Umstände dieser Tat.
Der Anstreicher meldete sich bei einem Polizeirevier und gestand, Joe R. getötet zu haben. In seiner Wohnung wurde dessen zerstückelte Leiche gefunden. Die Polizei begann wegen „heimtückischen Mordes zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“ zu ermitteln. Es war von „Kannibalismusfantasien“ die Rede und von Parallelen zum Fall von Rotenburg. Die Zeitungen, nicht nur die Boulevardpresse, berichteten ausführlich. Kaum ein Detail wurde ausgespart. Auch nicht die Frage, ob der Maler von der Leiche gegessen hat. Er hat es wohl nicht.
Joe R. sei ein Christ gewesen, ein Humanist, ein geistvoller Mensch, sagte Jürgen Quandt, der Pfarrer. Man könne an dieser Erfahrung festhalten. „Nichts davon muss zurückgenommen werden.“ Auch nicht jetzt, wo man mehr über ihn wisse und über sein Privatleben, über das, was der Pfarrer die „abgewandte Seite“ nannte, über das, was er als „Sünde“ bezeichnete. „Welches Recht auf schonungslose Offenheit haben wir auf diese abgewandte Seite?“, fragte Quandt. Und da meinte er noch die Familie, die Angehörigen, nicht die Öffentlichkeit.
Aber Quandt sprach in seiner Predigt nicht nur darüber, wie das ist, wenn man einen Menschen kennt und liebt und mit dem Augenblick seines Todes andere, finstere Züge an ihm entdeckt. Er widmete sich auch den Journalisten.
Das Schreckliche an der Tat sei nicht nur „die Mörderhand“, sondern auch eine „bigotte, sensationalistische Boulevardpresse“, die die Horrorlust bediene, gegen die sie sich mit ihrer Berichterstattung angeblich wende, meinte der Pfarrer. „Wenn dem geschändeten Leib seine Würde zurückgegeben werden soll, dann darf über so etwas nicht pietätlos und ohne Anstand geschrieben werden“, sagte Quandt. Andernfalls sei das ein Missbrauch der Pressefreiheit.
Der Pfarrer bedankte sich bei allen, die gekommen waren. Vor allem bei den Schülern. Alles, was sie nach dessen Tod über ihren Lehrer erfahren hätten, müsse sie stark verunsichert haben. Er bat sie, sich an Joe R. dennoch so zu erinnern, wie sie ihn in der Schule kennen gelernt hatten. „Ich weiß, damit mute ich euch viel zu.“
An den Kirchentüren waren vor dem Gottesdienst Schilder angebracht worden, die Bild- und Tonaufnahmen im Innern untersagten: eine Botschaft an die Journalisten. Nur ganz am Anfang machte ein Freund der Familie einige Aufnahmen.
Es werden nicht nur diese Fotos bleiben. Es wird bei denen, die da waren, auch ein anderes, mächtigeres Bild überdauern, davon, wie man einen ganz normalen Trauergottesdienst feiert. Trotz allem. JOHANNES GERNERT