: Der Überspieler
Aachens Verteidiger Willi Landgraf (36) ist aufm Platz der Mann fürs Grobe, ansonsten ein freundlicher, selbstironischer Zeitgenosse – und ab heute mit 480 Einsätzen Rekordmann der 2. Liga
AUS AACHEN BERND MÜLLENDER
Es gibt Momente, da ist Willi Willi, sonst gar nichts. Beim ersten Uefa-Cup-Auftritt der Alemannia, neulich in Island, war Wilfried Landgraf besonders viel Willi: Langer Sprint über rechts, genaue Flanke mit allerletzter Kraft – und während er noch kopfüber in die Werbebande von Icelandair krachte, spitzelte Erik Meijer zum 3:0 ein. Wild verzückt über seine tolle Tat raste Landgraf los, hüpfte herum, sprang umarmend an einen Mitspieler nach dem anderen hoch – bis er plötzlich auf den Schiedsrichter zurannte; er zögerte, stutzte und drehte im letzten Augenblick ab. „Da war mir erst aufgefallen“, sagte er später, „der iss ja gar nicht von uns.“ Am liebsten wäre Landgraf noch ewig weitergelaufen vor Glück. Aber dann ist ihm eingefallen, „dass Island ja ne Insel ist“. Und mit dem Referee aus Wales habe er auch noch gesprochen: „War ’n ganz netten Kerl. So wat hatte der noch nich erlebt, dat einer auf den draufspringen will.“
Kultfigur, Kampfschwein, Unikum, Frohnatur, kleinster Rasenpflug der Liga, grundehrlicher Arbeiter – was für ’ne Type. Willi Landgraf, 36 Jahre, 1,66 Meter kurz, Schuhgröße 39, hat fast schon so viele derb-freundliche Attribute gesammelt wie Einsätze. Heute läuft Aachens Rechtsverteidiger in Erfurt zum 480. Zweitligaspiel auf. Das ist neuer deutscher Rekord.
„Willliiiiii“, seit 1999 in Aachen, ist geborener Abwehrspieler. Kompromisslos macht er seinen Job: Rennen, abrennen, ackern, grätschen, Gegenspieler zermürben, Ball erobern, schnörkellos abspielen, den Jubel der Fans genießen, ein kleines Grinsen vielleicht – und bereit sein für die nächste Tat. Ein Willi Lippens der Verteidigungskunst. „Ich bin für die groben Sachen zuständig und kein Virtuose am Ball“, definiert der gelernte Kfz-Mechaniker, der nie einen Berater hatte („Dat kann ich alles selbst“). Trainer Dieter Hecking bescheinigt ihm einen „tadellosen Charakter“ und „ein bisschen verrückt“ zu sein. Landgraf ist mittlerweile fast ein Synonym für Liga 2, ihr Markenzeichen. Respekt erntet er überall. Und wenn Alemannia derzeit „die Übermannschaft der 2. Liga“ ist, wie Saarbrückens Trainer Ehrmanntraut kürzlich anmerkte, dann ist Landgraf der Überspieler.
Selbst aus Köln kommen anerkennende Worte. „Wenn ich den nur seh“, sagt FC-Haudegen Alexander Voigt anerkennend, „dann muss ich immer schon lachen“. Und der Stadt-Anzeiger schrieb nach dem tollen 1:0 im Uefa-Cup in Köln gegen Lille: „Ebenfalls stark: der unverwüstliche Willi Landgraf, dessen weißes Dress schon nach dem Aufwärmen dreckiger war als das Trikot seines Gegenspielers nach dem Schlusspfiff.“
Zum Popstar taugt der rotwangige Mann, der immer noch in seiner Heimat Bottrop lebt, nicht: „Ich muss die Schornsteine sehen“, sagt er. Landgraf ist der letzte aktive Zeitzeuge einer Ära, in der Fußball noch wie Fußball war. Großartig sind seine unzähligen Spontankommentare, weniger gelungen inszenierte Sätze wie „Eine Grätsche am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen“, mit denen er für das DSF zuletzt den Kasper gegeben hat („Willis Weisheiten“).
Willi, erzähl mich die Karriere: Überall war der ewige Zweitligakicker Liebling der Fans; in Gütersloh, Homburg und bei seinem ersten Club Rot-Weiß Essen sowieso, wo am 30. Mai 1987 die Karriere begann, unter Coach Horst Hrubesch. Landgraf hatte eine Frisur, für die sich Jahre später noch jeder Vokuhila-Fan aus dem Osten geschämt hätte. Seine Philosophie: „Auch inne ernste Situation immer schön locker bleiben und nie verkrampfen.“ Auf den Rekord sei er „schon ein bisschen stolz, aber ich bin auch froh, wenn ich dat hinter mir habe.“ So viele Ehrungen, Glück- und Interviewwünsche. Die kann man nicht einfach weggrätschen.
„Man sollte dich in Nutella gießen“, schrieb ihm ein Fan jetzt. Heute Abend will Landgraf „richtig einen springen lassen“, und er ahnt: „Pommes reicht da nicht.“ Pommes übrigens („Könnt ich jeden Tach essen“), weiß der Kartoffel-Connaisseur, „dürfen nich zu weich sein, am liebsten mit Doppelmajo und Soße, dat dat so schön durcheinanderläuft, un wenn möchlich noch mit ’ner Doppelcurrywurst dazu.“ Zur Hochzeit bekam Willi einst von seinen Homburger Mitspielern Pommes-Gutscheine über 400 Mark geschenkt. „Dat war sensationell.“ Nur gut, dass Ewald Lienen nie sein Trainer war.
Die Mannschaft, verrät Defensivkollege Alex Klitzpera, wird im Erfurter Stadion „eine große Überraschung“ überreichen, „etwas, das wir seit zwei Monaten vorbereitet haben und er auch im Fußball gut gebrauchen kann“. Womöglich doch noch für die erste Liga, wenn Alemannia aufsteigt? Ist da ein Klappstuhl erlaubt, eine Drehleiter? So was könnte bei Landgrafs großem Traum helfen: „Im Westfalenstadion vor 83.000 Zuschauern ein Kopfballtor machen, das wär’s doch.“ Warum er bislang nie Bundesliga gespielt hat? „Um ehrlich zu sein“, sagt Willi Landgraf ernst, „ich hatte nie ein Angebot.“