: Songs aus dem Mixer
Niedliche Figuren in sinistren Welten: Wie schlecht geträumte Geschichten hören sich die Songs von Deerhoof an. Gute Voraussetzung, in den Jahresbestenlisten der Kritik zu landen
Was ist ein Deerhoof? Ein Deerhoof ist eine Band, antwortet Chris Cohen, Gitarrist der Band Deerhoof, auf diese Interviewfrage mit schönster „Sendung mit der Maus“-Rhetorik. Und zwar eine der merkwürdigsten und interessantesten, die es zurzeit im amerikanischen Pop gibt: eine Band, die mit so illustren Acts aus dem ohnehin nach allen Seiten offenen Genre „Alternative/Independent“ verglichen wird wie den Blonde Redhead, den Bride of No No oder The Fisticuffs Bluff. Eine Band, die solche Größen wie Beck oder Wilcos Jeff Tweedy zu ihren Bewunderern zählt.
Und eine Band, deren aktuelles Album „Milk Man“ dem Spex-Rezensenten schon mal Wahrnehmungen von „Überleitungen zu gewalttätigen Fantasien und grimmigen Ausbrüchen“ bescheren sowie zu Spekulationen veranlassen kann, „dass diese Musik wohl entstanden sein muss, als Melt Banana Charles Manson im Gefängnis besuchten und von ihm genötigt wurden, seine Antwort auf Sgt. Pepper einzuspielen“.
Deshalb ist die spannendere Frage natürlich: Wie klingt ein Deerhoof? Ziemlich genau so, als hätte sich eine niedliche kleine japanische Comicfigur von sadistisch-sinistrem Manga-Charakter in die nette Welt der Peanuts verirrt, um dort nicht nur den Horror in die arglosen Kugelköpfe von Charlie Brown, Linus und Co. zu tragen, sondern auch gleich noch dem schönen Jazz-Soundtrack von Vince Guaraldi mit schrillem Kindergeschrei, kaputten Kettensägen-Riffs und manischem Georgele endgültig den Garaus zu machen.
Mit anderen Worten: Deerhoof haben neue Wege gefunden, im satten Pop für Ärger und Aufregung zu sorgen. Sie bedienen sich der Grundstruktur des klassischen Popsongs, können ganz straight eine schöne, kleine Jazz-Melodie runterspielen – und im nächsten Augenblick den ganzen Song in den Mixer zu werfen. Stellenweise klingt das zugegebenermaßen nach „Anti-Musik“, einem wilden Casio-Schlagzeug-Klimbim, das einem dann als kakofonische Avantgarde verkauft wird.
Man muss den Zauber manchmal vermissen, um ihn wiederfinden zu können. Dann ist man plötzlich wieder überwältigt von der entfesselten Schönheit dieser Musik und der geheimnisvollen Kinderstimme der Sängerin Satomi Matsuzaki, die die fantastischsten Geschichten über den „Milk Man“ mit seiner eigenartigen Obsession für Bananen erzählt. Dieser „Milk Man“ ist eine Erfindung des natürlich mit der Band befreundeten (oh, diese Szene!) Zeichners Ken Kagami und schmückt mit seinem gespensterhaften Kapuzenumhang das Albumcover. Die Songs handeln alle von ihm und hören sich an wie schlecht geträumte Geschichten: „Milk Man sleeps on the roof in the noon Banana stabbed to the arms.“
Auch wenn „Milk Man“ die frische Energie eines Debüts hat, so ist es doch bereits das sechste Album der Band, die bereits 1994 in San Francisco gegründet wurde. Sein Vorgänger „Apple O“ war in den USA vor zwei Jahren ein veritabler Independent-Erfolg und tauchte neben Bands wie den White Stripes, Radiohead und den Strokes in sämtlichen Jahresbestenlisten der amerikanischen Rockkritiker auf. Zurzeit besteht das Quartett aus den bereits erwähnten Satomi Matsuzaki und Chris Cohen sowie den Mulitinstrumentalisten Greg Saunier und John Dieterich, Letzterer laut Line-up für „Guitars/Manipulations“ zuständig.
Darüber hinaus hat die Band gerade einfach mal so ein Live-Album veröffentlicht, das über die Homepage ihres Labels mit dem bezeichnenden Namen Killrockstars (www.killrockstars.com) gratis heruntergeladen werden kann. „Bibidi Babidi Boo“ heißt das Werk. Was für ein Deerhoof! ANDREAS MERKEL
Deerhoof: „Milk Man“. All Tomorrow’s Party Recordings/Rough Trade