: Grüne wollen richtig Partei sein
Rotation, Amt, Mandat und Doppelspitze. Am Streit um eine neue Satzung brechen alte Wunden bei den niedersächsischen Grünen auf: Reform-Renitente wurden per Mail als „linke Extremisten“ bezeichnet
Aus Hannover Kai Schöneberg
„Wir sind bescheuert“, hatte ein Delegierter entsetzt in die Stille gerufen, als sich vor gut zwei Jahren auf dem Parteitag in Uelzen die Nachricht ausbreitete, dass Michel Golibrzuch die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine dritte Kandidatur als Landtagsabgeordneter der Grünen haarscharf verfehlt hatte. Dem immer wieder als „brillant“ bezeichneten Finanzpolitiker fehlten ganze zwei Deligiertenstimmen, damit er nach acht Jahren im Landtag auch in der neuen Legislaturperiode wieder auf die Grünen-Liste durfte. So will es die immer noch basisdemokratisch angehauchte Satzung der Niedersachsen-Grünen, neben der des Berliner Landesverbandes die letzte mit einer Rotationsregelung.
„Bescheuert“ findet wohl auch Brigitte Pothmer diejenigen in der Partei, die sich einer Modernisierung der Partei weiter widersetzen. Aber das würde die heutige Landesvorsitzende der Grünen so nie sagen. Sie will die Chaostage von damals, als kurz vor Bundes- und Landtagswahlen der Vorstand demontiert wurde, auf gar keinen Fall wiederholen. Die Grünen sind erwachsener geworden. Die EU-Wahl fiel für die Grünen Niedersachsen - nicht zuletzt wegen der Spitzenkandidatin Rebecca Harms - mit 12,1 Prozent hervorragend aus. Sie stellen mittlerweile drei Bürgermeister im Land. Und weil die abgewählte Landes-SPD immer noch ein Bild des Bröselns abgibt, gelten sie vielen derzeit als die einzige Oppositionspartei in Hannover. Pothmer, die im Frühjahr eine Satzungskommission installierte, sagt nur: „Die Anforderungen an unsere Politiker sind immens hoch, aber sie dürfen keine Berufspolitiker sein.“ Und: „Wir liegen immer noch auseinander.“ Die Satzungs-AG konnte sich nicht zu einem Endergebnis durchringen. Pothmer könnte nicht nur scheitern, an der Reformdiskussion brechen auch wieder die als vernarbt geglaubten Wunden auf, die die Partei einst entzweiten. Vor der gemeinsamen Sitzung von Fraktion und Vorstand an diesem Montag kursierten Mails, in denen Reform-Renitente als „linke Extremisten“ beschimpft wurden. Auf der Sitzung selbst soll es sehr laut geworden sein. Da war der alte Fundi-Realo-Streit, der auch in Teilen der alte Krach zwischen Vorstand und Fraktion ist, wieder da. Konflikte, die die Partei längst begraben haben wollte. „Es hat sich auf jeden Fall nach der Sitzung niemand entschuldigen müssen“, beschwichtigt Pothmers Co-Vorsitzender Raimund Nowak, der am Montag ein Konsenspapier präsentierte, „das sehr unterschiedlich ankam“. Von der von Pothmer angestrebten Abschaffung der Doppelspitze ist darin nicht mehr die Rede. In 15 von 16 Landesverbänden gibt es das Chef-Duo noch, in Hamburg allerdings als eine Parteichefin mit Stellvertreter. Letztlich sei die Doppelspitze doch ein Instrument der Frauenförderung, betont Nowak.
Auch an der Trennung von Amt und Mandat scheiden sich die Niedersachsen. Ein Abgeordneter, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, ist „dagegen, dass bei einem Wahlsieg ein Landesvorsitzender Minister werden kann. Unbeschadet der Koalitionsdisziplin sollen die Chefs weiter originär grüne Positionen vertreten können“. In Baden-Württemberg sei ein ähnlicher Vorstoß gerade gescheitert. Auch in Bremen, Hamburg, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz wird weiter strikt getrennt. Bei der leidigen Rotation gibt ebenso noch keine klare Linie. In Schleswig-Holstein wurde sie gerade per Urabstimmung abgeschafft, um einen Brain-Drain zu verhindern. Weiter südlich sind immer noch einige der Meinung, dass nach zwei Legislaturen eigentlich Schluss im Parlament sein muss. Immerhin wird diskutiert, dass zumindest jeder dritte Listenplatz mit Parlaments-Novizen bestückt werden soll, „damit der Korridor für Neue offen bleibt.“
In Niedersachsen sind die beiden Lager sind nicht mehr Meilen voneinander entfernt. Aber so nah, dass man dem Parteitag am 13. November in Melle eine neue Satzung präsentieren könnte, sind die Grünen auch noch nicht. Zwischenzeitlich hatte Pothmer sogar an eine Urabstimmung gedacht. Aber: Bevor es erneut zum Debakel kommt, „könnte der Landesvorstand am kommenden Dienstag auch beschließen, alles zu verschieben“.