: Das wahre Maut-Desaster
Die Technik von TollCollect hat hämische Fundamentalkritik nicht verdient – sie könnte letztlich sogar dafür sorgen, Güterverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern
In der Liebe zum Auto lassen sich die Deutschen von niemandem übertreffen. Wenn ein Unternehmen wie DaimlerChrysler beim Aufbau eines Mautsystems technisch in Schwierigkeiten gerät, ist das in Deutschland nicht nur ein Problem für Ingenieure, sondern eine nationale Katastrophe. Die größten und ruhmreichsten deutschen Technologiekonzerne bis auf die Knochen blamiert, das Verkehrsministerium ein Hort von Dilettanten, das ist das viel beklagte „Maut-Desaster“.
Unbestreitbar haben Politik und Industrie den Start der Maut in den Sand gesetzt. Die Politik hat einen überehrgeizigen Zeitplan vorgegeben, und die Industrie ist darauf eingegangen, um die Konkurrenz zu überholen. Dabei wussten die Auftragnehmer, dass es schlicht unmöglich war, in einem Jahr das weltweit komplexeste Mauterfassungsystem aus dem Boden zu stampfen. Wie so oft hapert es vor allem an der Software, die bei verschiedenen Firmen parallel entwickelt wurde und wegen des absurden Zeitdrucks noch nicht zusammenspielt. Die hämische Fundamentalkritik an der Vertragsgestaltung und der Technik ist aber unberechtigt.
Der Vertrag: Nichts erregte die Öffentlichkeit in den letzten Wochen mehr als die geringen Vertragsstrafen für das Maut-Konsortium. Erst ab Dezember werden monatlich 7,5 Millionen Euro fällig, ab März nächsten Jahres 15 Millionen Euro. Im Vergleich zu einem Verlust von 156 Millionen Euro pro Monat für den Bundeshaushalt sind das tatsächlich Peanuts.
Darauf kommt es aber nicht an. TollCollect entgehen jeden Monat Betreibergebühren in Höhe von rund 60 Millionen Euro. Weitere 60 Millionen Euro pro Monat darf der Bund von der Erstattung der Investitionskosten abziehen. Für den Fall schuldhafter Verzögerung des Maut-Starts greift eine unbegrenzte Haftung. Wenn alle Stricke reißen, kann der Bund den Vertrag kündigen und das Unternehmen per Call Option erwerben. Den Eigentümern wird dann nur das eingesetzte Fremdkapital ersetzt, Eigenkapital und Unternehmenswert bleiben unberücksichtigt. In Fachkreisen gilt das als ungewöhnlich harte Regelung. Eine gute Startposition für die Verhandlungen des Bundesverkehrsministeriums über eine einvernehmliche Regelung des Schadens.
Die Technik: Immer wieder wird auf positive Beispiele in Österreich und der Schweiz verwiesen. Beide Alpenstaaten haben in der Tat ein Mautsystem eingeführt, das funktioniert und viel billiger ist als das deutsche: Die Schweiz setzt die Mautgebühren ganz simpel über den Kilometerzähler fest, GPS und Bewegungssensoren beugen lediglich Manipulationen vor. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Gebührenerhebung auf dem gesamten nationalen Straßennetz erfolgt – nicht nur auf den Autobahnen – und der Kilometerstand beim Grenzübertritt erfasst wird. Beides ist Deutschland wegen der Zugehörigkeit zur EU nicht möglich. Österreich erhebt eine Maut, die nicht auf den einzelnen Kilometer, sondern auf Autobahnabschnitte bezogen ist. Die Ermittlung der Distanzen erfolgt bei der Durchfahrt von Baken, die Streckenabschnitte trennen. Die Gebühren werden zentral errechnet, die Fahrzeuge müssen nur mit einem Gerät für die elektronische Abbuchung ausgestattet werden.
Im Gegensatz dazu ist der Clou des deutschen Mautsystems die Gebührenberechnung in der Fahrzeugeinheit (On Board Unit, OBU). Die OBU ermittelt ständig, wo sich der Lkw befindet, gleicht dies mit einer elektronischen Straßenkarte ab, berechnet laufend die Mauthöhe und führt die Zahlung durch. Das macht den einzelnen Bordcomputer teurer und das System komplexer.
Dafür stößt die revolutionäre Technik das Tor zu einer effektiven Steuerung des Verkehrsflusses weit auf. Die Ermittlung der Mautgebühr im Fahrzeug erlaubt es, die Mauthöhe zu differenzieren, etwa nach der Kategorie der benutzten Straßen, nach der Tageszeit oder der Verkehrsstärke.
Technisch ist die Kontrolle des gesamten Straßennetzes ohne Mautstellen jederzeit möglich, mittelfristig können auch Pkws einbezogen werden. Wo bisher meist nur der Straßenausbau dem Stau Abhilfe schaffen konnte, wird in Zukunft eine höhere Maut zur effektiveren Nutzung knapper Infrastruktur anhalten und die Straßen für die volkswirtschaftlich rentabelsten Transporte frei machen.
Die Technik ist nicht auf die Erhebung der Maut beschränkt. Durch Installation von bald 500.000 Geräten entsteht ein riesiger Wachstumsmarkt für Mehrwertdienste. In den Zentralen der Speditionen könnten schon bald Monitore die exakte Position und Geschwindigkeit jedes einzelnen Lkws anzeigen und eine optimale Disposition ermöglichen. Deutschland leistet sich eine milliardenschwere Technologieförderung, und die Brummiflotten auf den Autobahnen zahlen dafür. Es wäre ehrlicher gewesen, das laut zu sagen, aber in der Sache ist daran nichts falsch.
In der larmoyanten Diskussion über das Chaos mit der Maut geht die eigentliche Gefahr für das deutsche Mautsystem bislang völlig unter. Sie kommt aus Brüssel. Die EU-Kommission hat fast zeitgleich mit dem geplanten deutschen Maut-Start den Entwurf einer Wegekostenrichtlinie vorgelegt, der tatsächlich Grund für einen Sturm der Empörung wäre.
Die Kommission strebt mit der Wegekostenrichtlinie ausdrücklich keine Verteuerung des Güterverkehrs auf der Straße, sondern eine Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen an. Deshalb will sie kostenorientierte Mauthöchstsätze vorgeben. Sind Straßen älter als 15 Jahre, gelten sie als abgeschrieben, so dass nur der jährliche Unterhalt angesetzt werden darf. Die Anrechnung externer Kosten, etwa von Schäden an der Umwelt, will die Kommission nur so weit erlauben, wie Schäden tatsächlich finanziell ausgeglichen wird – faktisch also gar nicht.
Der Effekt der Richtlinie wäre eine dauerhafte Absenkung der Mautgebühren unter das in Deutschland bereits festgelegte Niveau von 15 Cent je Kilometer. Für eine Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene ist das deutlich zu wenig, wie die Erfahrungen aus der Schweiz mit einem Satz von 40 Cent je Kilometer zeigen. Da die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten auch die Verwendung von Mauteinnahmen zum Ausbau der Schiene weitgehend untersagen will, würde diese Richtlinie das Ende jeder ökologischen Güterverkehrspolitik bedeuten.
Kein Zweifel, Politik und Industrie haben sich bei der Einführung der Maut nicht mit Ruhm bekleckert. Für den Erfolg der Maut ist aber nicht die Höhe der Schadenersatzzahlungen oder der Termin des Maut-Starts entscheidend. Es kommt darauf an, die EU-Kommission davon abzubringen, die Nutzung der deutschen Technik durch eine strangulierende Wegekostenrichtlinie sinnlos zu machen. Der Politik würde damit das beste Instrument zur Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene aus der Hand geschlagen. Darüber würde sich ein halbes Jahr vor der Europawahl eine intensive Debatte lohnen. BORIS PALMER