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Archiv-Artikel

Der Politkommissar

Acht Jahre kämpfte Rachid Berkane für die algerische Befreiungsbewegung. Bis heute fühlt er sich „zum Teil als Franzose“

AUS ALGIER REINER WANDLER

„Birtouta, Chebli, Ouled Chebel bis hinüber nach Boufarik.“ In Rachid Berkanes Stimme schwingt Stolz mit, wenn er von „seinem Sektor“ redet, den er als Politkommissar im algerischen Befreiungskrieg unter sich hatte. Dabei lässt er seinen Blick über die riesigen, von Alleen unterbrochenen Orangenhaine in der fruchtbaren Mitidja-Ebene vor den Toren Algiers schweifen. Der 64-jährige Rentner kennt hier jeden Winkel, zumindest da, wo Bevölkerungsexplosion und Bauwut die Landschaft nicht allzu arg verändert haben. Er war seit 1962, seit Ende des Krieges, nicht mehr hier – und biegt doch ohne zu zweifeln auf einen staubigen Feldweg ab. Nach ein paar hundert Metern geht es abermals nach links. Vor einer großen Mauer, hinter der ein Bauernhaus liegt, endet die Fahrt. Berkane ist noch nicht richtig ausgestiegen, da öffnet sich das Tor. Ein alter Mann in Arbeitskluft kommt heraus. Ein kurzer Blick genügt: „Rachid!“ – „Mohamed!“ und die beiden liegen sich in den Armen.

„Hier auf dem Hof haben wir gegessen und unsere Verletzten versorgt“, erzählt Berkane. „Im Nachbargarten war unser Versteck.“ Ein Schacht, abgedeckt mit einem Betonkübel, in dem ein kleiner Baum wuchs, führte in vier Meter Tiefe zu einem Raum mit Belüftung. „Zu sechst hausten wir dort“, erinnert sich der hagere Mann. „Nachts kamen wir heraus und führten unsere Aktionen durch.“ Das Kommando griff Stützpunkte der Kolonialarmee an, überfiel die Gendarmerie, setzte Farmgebäude in Brand, verübte Anschläge auf französische Grundbesitzer.

Einheiten wie die von Rachid Berkane waren überall im Land aktiv. Der Guerillakrieg zwang schließlich die französische Armee in die Knie. Paris verhandelte mit den Vertretern der „Banditen“, wie sie die Algerische Nationale Befreiungsfront (FLN) und deren militärischen Arm, die Nationale Befreiungsarmee (ALN) den ganzen Krieg über genannt hatten. Am 1. Juli 1962 setzte eine Volksabstimmung 132 Jahren Kolonialgeschichte ein Ende. Wenige Wochen später gab Rachid Berkane seine Waffe ab. „Die Organisation gab mir ein paar Dinar – genug für zwei Monate.“ Der ehemalige Moudjahid heiratete seine Braut Miriam, die ebenfalls im Untergrund tätig gewesen war. Für ihn begann das zivile Leben.

„Ich war damals gerade einmal 22, und hinter mir lagen acht Jahre Kampf und Krieg“, sagt Berkane. „Hätte Paris gleich verhandelt, wäre die Unabhängigkeit mit weniger Leid erreicht worden.“ Eine Million Menschen verloren in einem der härtesten Kolonialkriege ihr Leben. Die meisten von ihnen waren Algerier. Knapp eine Million Europäer flohen nach der Unabhängigkeit aus dem nordafrikanischen Land.

Begonnen hatte alles am 1. November 1954. Berkane erinnert sich noch gut an jene Nacht, die sein Leben und die Zukunft Algeriens radikal verändern sollte. Anschläge an dreißig Orten über das ganze Land verteilt gaben den Startschuss zum Befreiungskrieg. „Ich war zwar erst vierzehn, aber bereits tief vom patriotischen Gedankengut geprägt“, sagt Berkane.

Der Sohn eines Beamten des französischen Arbeitsamtes gehörte zu den Muslimischen Pfadfindern. Neben Ausflügen in die Umgebung Algiers standen dort Lieder auf dem Programm, die den Wunsch nach Unabhängigkeit besangen. Rachid Berkane wuchs im Stadtteil neben der Basilika Notre Dame d’Afrique in Algier auf. „Heilige Mutter Gottes von Afrika, bete für uns und die Muslime“ steht in der Kuppel der Kirche. Im Schatten der Basilika und dem angrenzenden Kloster lebten die Familien kleiner französischer Angestellter und Beamter sowie Muslime, die es wie Berkanes Vater zu etwas gebracht hatten.

„Ich besuchte eine gemischte Schule und hatte sehr gute französische Freunde“, erinnert sich der Rentner, der als Junge mit seinen europäischstämmigen Kumpels gerne ins Kino, in den Boxverein und zum Tanzen ging. „Die Organisation erlaubte das“, sagt er, als müsse er sich dafür entschuldigen. Es sei schließlich eine gute Tarnung gewesen und habe den Zugang zum französischen Umfeld ermöglicht. „Die Zeit unter den Franzosen war sicher die beste meines Lebens“, resümiert er.

Dass er sich dennoch der nationalen Unabhängigkeitsbewegung anschloss, ist für ihn kein Widerspruch. „Sicher ging es uns in der Stadt recht gut. Doch auf dem Land lebten die Algerier in schrecklicher Armut.“ Als die Kolonialherren die Nordküste Afrikas eroberten, hatten sie den „Eingeborenen“ ihren Grund und Boden genommen. Aus selbstständigen Bauern wurden besitz- und rechtlose Tagelöhner, die mit dem, was sie verdienten, kaum leben konnten. Auch in der Stadt verdienten „die Araber“ weniger als ihre französischen Kollegen, wie Berkane in seiner Fotografenlehre erfuhr.

Rachid Berkane, der sich bis heute „zum Teil als Franzose fühlt“, ist von den Werten der „Grande Nation“ geprägt. In der Schule hörte er von den Idealen der Französischen Revolution, von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und von der nach der Nazibesatzung wieder errungenen Freiheit des Vaterlandes. Nur passte all dies so gar nicht zur algerischen Realität. Deshalb besuchte der Heranwachsende gerne mit seinem Vater Kundgebungen der algerischen Nationalisten. Dort sprach Messali Hadj, der Vordenker des freien Algeriens. Hadj weckte in vielen Algeriern den Traum von einem Staat, auf den sie ebenso stolz sein konnten wie die Franzosen auf den ihren und der vor allem den Islam respektieren sollte. Später dann vermischte sich all das mit dem Panarabismus, der Ideologie des charismatischen Staatschefs von Ägypten, Gamal Abdel-Nasser.

Die ersten Kontakte mit der bewaffneten Bewegung hatte Rachid Berkane schon wenige Wochen nach dem 1. November 1954. „Mein Onkel hatte aus dem Zweiten Weltkrieg eine Kiste voller Munition und wollte von meinem Vater wissen, wie er sie den Kämpfern zukommen lassen konnte“, erinnert er sich. Der Vater wusste tatsächlich Rat. „Wenige Tage später kam ein junger Mann zu uns nach Hause, der sich als Ahmed vorstellte. Ich stieg mit ihm in einen 2CV, und wir fuhren zu meinem Onkel außerhalb Algiers.“

Ahmed meldete sich immer wieder bei dem Jungen. Er betraute ihn mit Botengängen, dem Verteilen von Flugblättern, ließ ihn berichten, was im Stadtteil passierte. Bald schon stand der 15-Jährige bei Anschlägen Schmiere, überbrachte Waffen, mit denen wenig später Attentate verübt wurden oder kundschaftete den Lebenswandel eines Anschlagopfers aus. „Meist waren es Verräter, die mit den Franzosen zusammenarbeiteten.“

Der Anblick des ersten Toten in einer Blutlache habe ihn schockiert. „Doch die Organisation erklärte uns, warum er sterben musste – und dann fand ich das richtig so.“ Der Weg in den Untergrund führte über die französische Armee. Mit neunzehn wurde Rachid eingezogen. Die Organisation befahl ihm, die Grundausbildung als Telegrafierer zu beenden. Nach sechs Monaten nahm er seine Maschinenpistole und schlich sich davon. Sein Ansprechpartner bei der FLN vermittelte ihn in die IV. Militärregion der ALN, die Mitidja-Ebene.

Die Feuertaufe erlebte der frisch gebackene Moudjahid nur wenige Tage später. Zu zehnt wurden sie von der französischen Armee in einem Orangenhain umstellt. Die Hälfte von Berkanes Kameraden fiel, ihm gelang es zusammen mit seinem verwundeten Kommandanten, bei Einbruch der Dunkelheit durch die feindliche Schützenpanzerlinie hindurchzurobben. Jetzt war er ein ganzer Kämpfer. Denn bei diesem Feuergefecht hatte er erstmals einen gegnerischen Soldaten erschossen. „Entweder er oder du!“ Moralische Bedenken weist Berkane weit von sich. Später stellte sich heraus, dass eine junge Algerierin die Moudjahidin gesehen und dies ihrem Arbeitgeber gemeldet hatte. „Wir suchten sie und richteten sie hin. Der Kommandeur schnitt ihr die Kehle durch“, berichtet Berkane.

Über dreißig solcher Exekutionen hat er beigewohnt. „Ich habe mich nie daran gewöhnt“, sagt er leise. „Verrätern“ wurde grundsätzlich die Kehle durchtrennt. Kugeln seien zu schade, lautete die Begründung. Das grausame Vorgehen sollte abschrecken und den zweifelnden Teil der Bevölkerung auf die Seite der FLN und ALN zwingen. Wer von der Organisation angesprochen wurde, hatte gefälligst auszuführen, was von ihm verlangt wurde. Wenn nicht, galt er als Verräter. Ganze Familien von Anhängern anderer nationalistischer Gruppen, wie etwa Hadjs MNA, wurden massakriert. Selbst die Moudjahidin hatten Angst. Wer widersprach, machte sich verdächtig.

Das Gute durch das Schlechte erreichen“, nennt Berkane dies heute. Der alte Kämpfer hat oft gegrübelt, ob das Vorgehen der ALN nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt war: „Es setzten sich immer die Brutalsten durch und nicht die Intelligenten mit politischer Weitsicht. Das ganze System nach der Unabhängigkeit lässt sich so erklären.“

Nur kurze Zeit nach dem Referendum rückte die so genannte Grenzarmee auf Algier vor. Es waren gut ausgerüstete Truppen der ALN, die den ganzen Krieg über in Tunesien und Marokko festgesessen hatten, da die Franzosen die Grenzen sicherten. Viele Offiziere der Grenzarmee hatten bereits bei den Franzosen gedient und waren während des Krieges übergelaufen. Die Moudjahidin im „Inneren“ trauten ihnen nicht über den Weg. Berkane griff mit seiner Einheit ein letztes Mal zur Waffe. „Wir hatten den Krieg gewonnen und wollten nicht zulassen, dass die Grenzarmee die Macht an sich riss.“ Er gab Befehl, in Birtouta eine Barrikade zu errichten. Zum Feuergefecht kam es nicht. Der Kommandeur pfiff den jungen Politkommissar zurück.

Die Armee unter Houarie Boumedienne zog in Algier ein und übernahm die Macht. Der Traum vom demokratischen Algerien musste einem Einparteiensystem weichen. Wo die Moudjahidin dies nicht einsehen wollten, brach ein Bürgerkrieg aus. Das „für uns oder gegen uns“ wurde zur Staatsdoktrin. Der militärische Sicherheitsdienst verfolgte die Opposition mit denselben Mitteln, wie es die Franzosen getan hatten: Haft, Folter, Verschwindenlassen. Erst nach dem Tod Boumediennes und einer Jugendrevolte 1988 wurden Parteien zugelassen. Die Jugendlichen liefen in Scharen der Islamischen Heilsfront zu. Diese versprach, Schluss zu machen mit der Korruption in Staat und Armee. Als 1992 die Islamisten die Wahlen gewannen und die Armee die Macht übernahm, versank Algerien abermals im Blutrausch.

„Viele der Moudjahidin und ihrer Familien bereicherten sich gleich nach der Unabhängigkeit an dem, was die geflohenen Franzosen zurückgelassen hatten“, so Rachid Berkane. „Das war der Anfang allen Übels.“ Er selbst ist stolz darauf, nichts genommen zu haben – und das, obwohl er einige Monate im Komitee für leer stehende Güter in seinem Sektor saß. Der zur Einheitspartei gewandelten FLN ist er nie beigetreten.

Heute lebt Berkane in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im kolonialen Zentrum Algiers, die er „bis auf den letzten Centime abbezahlt hat“. Bis auf den ältesten Sohn haben die Kinder der Berkanes dem unabhängigen Algerien den Rücken gekehrt. Eine Tochter lebt in Paris, ein Sohn in London und anderer wartet auf die Einreisegenehmigung nach Kanada. „Trotz alledem“, sagt der Vater, „wir haben getan, was getan werden musste.“

REINER WANDLER ist taz-Korrespondent in Madrid