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Archiv-Artikel

Mehr als ein Pferderennen

Morgen findet im australischen Flemington der Melbourne Cup statt. Für die Australier ist das ein ähnliches Ereignis wie für die Franzosen der 14. Juli, nur dass dabei auch mächtig gezockt wird

AUS MELBOURNEBORIS B. BEHRSING

Der erste Dienstag im November ist für den Australier wichtiger als der Thanksgiving Day für den Amerikaner oder der 14. Juli für den Franzosen. An diesem Tag nämlich, also morgen, findet der Melbourne Cup statt, und das ganze Land interessiert dann nur eine Frage: Welches Pferd wird diesmal auf dem Turf von Flemington gewinnen? Und auch in diesem Jahr werden die Hufe der Pferde trampeln wie rasend, wenn die Jockeys in der letzten Runde der 3,2 Kilometer langen Strecke die Peitschen auf die 24 Pferdehintern klatschen lassen. Und es wird wieder einen brausenden Aufschrei aus mehr als 100.000 Kehlen auf den Tribünen geben, wenn einer der Favoriten als Erster durchs Ziel geht. Besonders gute Chancen gibt man in diesem Jahr dem englischen Pferd Distinction, Makybe Diva und dem siegeserprobten Vinnie Roe aus Irland.

Doch der Melbourne Cup ist weit mehr als nur ein Pferderennen. Seit seiner ersten Austragung im Jahr 1861 hat er sich zum größten pferderennsportlichen Ereignis der südlichen Hemisphäre ausgewachsen und längst internationalen Anstrich erreicht. Nicht nur die australischen und neuseeländischen Gestüte schicken ihre besten Galopper nach Flemington, zunehmend treten dort auch Pferde aus Europa, den Arabischen Emiraten und Asien auf, um down under ihr Glück zu suchen – und den Erfolg.

Das Rennen selbst dauert nur rund dreieinhalb Minuten, doch während dieser Zeit steht ganz Australien still. Selbst die Regierungsbüros in der fernen Bundeshauptstadt Canberra sind leer gefegt, die Beamten drängen sich vor den aufgestellten TV-Bildschirmen, auch die Kumpel in den Erzminen und die Arbeiter auf den riesigen Farmen im Outback machen Pause und lauschen gebannt an den Rundfunkgeräten. Denn bei diesem Rennen geht es nicht nur um einen neunkarätigen Goldpokal, sondern um Preisgelder in Höhe von 4,6 Millionen australischen Dollar (rund 2,7 Millionen Euro).

Und es geht ums Zocken, schließlich liegt den Australiern die Wettleidenschaft im Blut, man kann das unschwer an den lange Menschenschlangen in den zahlreichen Wettbüros erkennen. Während des kurzen Rennens werden Vermögen gewonnen und verloren. So intensiv ist das Erlebnis, dass es nicht selten vorkommt, dass ein älterer Australier einen Herzanfall erleidet. In Melbourne selbst ist der Renntag gar ein Feiertag, der Melbourne Cup ist wohl das einzige Pferderennen, dem diese Ehre zuteil wird.

Das Spektakel in Flemington, das die Australier als ihr Gegenstück zum englischen Derby sehen, ist aber nicht nur ein außergewöhnliches Pferderennen. Wie kein anderes Ereignis erweckt es den Schein eines gesellschaftlichen „Gleichmachers“. An diesem Tage fühlt sich der Fabrikarbeiter in Flemington seinem ebenfalls Flemington besuchenden Firmenboss ebenbürtig. Mit der oft angeführten Klassenlosigkeit der australischen Gesellschaft ist es so weit her allerdings auch in Flemington nicht. Denn während „das Volk“ sein Picknick auf dem Rasen oder dem großen Parkplatz abhält, feiert die „feine Gesellschaft“ auf den nur Mitgliedern und Freunden des „Victoria Racing Clubs“ zugänglichen Tribünenteilen mit Brathähnchen und Sekt, wozu die Damen elegante Ensembles und große Hüte tragen, die sie häufig selbst in Rom, Paris oder London eingekauft haben. Die Herren stehen da kaum zurück: Vom Ministerpräsidenten und Industriemagnaten bis hin zum ausländischen Würdenträger sowie den Mitgliedern des exklusiven Rennklubs von Victoria – sie alle tragen stolz grauen Cut und Zylinder.

Auch der diesjährige Cup hat wieder zehntausende von Besuchern aus allen Teilen Australiens nach Melbourne gelockt, aber auch Gäste aus der asiatischen Nachbarschaft. Die großen Hotels sind ausgebucht. Und man trifft nur wenige Australier angelsächsischer Herkunft, die die englischen Könige aufsagen, aber viele, die die Cup-Sieger Generationen zurückverfolgen können.

Auf chancenreiche Pferde sind in Melbourne gelegentlich Attentate versucht worden. Die Melbourne-Cup-Renner sind deswegen wohl die am schärfsten bewachten Pferde der Welt. Heute noch gilt „Phar Lap“ als das berühmteste Rennpferd Australiens. Ganze Schulklassen wandern regelmäßig zum Nationalmuseum in Melbourne, um den ausgestopften Cup-Sieger des Jahres 1930 zu bestaunen. Jedes australische Kind weiß, dass Phar Lap vor einem Rennen in den USA unter mysteriösen Umständen vergiftet wurde – wie es heißt, von den Rennstalltrainern eines Rivalen. Auch das Herz Phar Laps ist ausgestellt. Nach Aussagen von Tiermedizinern hat es die eineinhalbfache Größe eines Herzens von einem normalen Vollblüter. Die Redewendung „ein Herz wie Phar Lap“ war in Australien lange Zeit ein Ausdruck großer Anerkennung.