: Ratlose Volkswirtschaftler
In der Wirtschaftsforschung dominiert eindimensionales Denken, komplexe Problemanalysen fehlen. Es wird Zeit, dass die Ökonomen das zugeben
Nennen wir sie einmal Sandkastenökonomen. Sie sitzen in den Talkshows, stehen an den Rednerpulten, hocken an den Stammtischen und forschen gar an den Instituten – und sie haben für alle komplizierten volkswirtschaftlichen Probleme stets einfache Lösungen.
Immer wieder gerne vertreten wird etwa die These: Gebt den Menschen mehr Lohn! So steigt die Kaufkraft, und der Absatz belebt sich. Der Staat profitiert durch höhere Steuereinnahmen – und alle sind sie zufrieden. Klingt plausibel. Dann kommt die Gegenthese: Löhne runter! Das senkt die Kosten der Unternehmen, drückt so die Preise der Produkte und Dienstleistungen. Die Firmen steigern ihre Wettbewerbsfähigkeit, und es floriert der Absatz – und wieder haben alle etwas davon. Auch das klingt plausibel.
Wahlweise werden derart simplifizierte Denkmodelle für jede ökonomische Fragestellung genutzt. Was hilft Wirtschaft und Gesellschaft mehr: höhere oder niedrigere Steuern? Eine längere oder kürzere (Lebens-)Arbeitszeit? Einkommen- oder besser Verbrauchsteuer? Mehr Hartz IV oder doch lieber weniger? Auf jede Frage haben unterschiedliche Ökonomen unterschiedliche Antworten parat, die mitunter um 180 Grad differieren. Weshalb sich der ideologisch unbelastete Zuhörer längst verzweifelt fragt: Wer hat nun Recht? Denn immerhin ist die Wirtschaftslehre eine Wissenschaft und keine Religion, wo jeder glauben kann, was er möchte.
Nun geht es freilich den meisten Rednern, die sich über wirtschaftliche Zusammenhänge auslassen, gar nicht um die Suche nach der Wahrheit. Ihre Argumentation ist getrieben von schlichtem Lobbyismus. Da hängt dann das Strickmuster der jeweiligen Kausalkette allein vom Brötchengeber ab. Eine fundierte ökonomische Analyse ist vor diesem Hintergrund schwerlich zu erwarten.
Ärgerlich ist, dass auch die Wissenschaft den gleichen Weg der platten Argumentation geht. Selbst Wirtschaftsforscher tingeln durch die Lande, operieren dabei nur mit Schlagworten und verschreiben sich wahlweise dieser oder jener Strömung. Und sie tun dabei so, als sei die Volkswirtschaft so einfach und monokausal wie ein Physikexperiment in der siebten Klasse.
Zuletzt wurde das deutlich bei der Vorstellung des Herbstgutachtens der „führenden“ Wirtschaftsforschungsinstitute. Da erfuhr man, dass steigender Konsum das Bruttoinlandsprodukt erhöht, es wurde vom „Risiko Ölpreis“ geschwafelt und davon, dass der starke Export auch ökonomische Risiken birgt. Und alle hofften – ganz doll natürlich – auf Wachstum. Das Einzige, was fehlte, waren brauchbare ökonomische Analysen.
Dabei muss man von Wissenschaft mehr verlangen können als Denken in eindimensionalen Wenn-dann-Beziehungen. Wissenschaftler müssen sich der Komplexität ihres Fachgebiets stellen, um systemtheoretische Modelle der Realität entwerfen zu können. Modelle, die auch Rückkopplungen – von denen es in der Ökonomie mehr als genug gibt – betrachten. Doch während andere Wissenschaften das längst tun, bleibt die Wirtschaftsforschung in banalen Kennlinienfeldern hängen.
Kein Klimaforscher würde es sich erlauben, die komplexen Wechselwirkungen seines Fachs mit eindimensionalen Schaubildern auf Mittelstufenniveau darzustellen. Die Klimaforscher setzen vielmehr auf systematische Rechenmodelle. So simulieren sie dann in einem hochkomplexen Konstrukt, was passiert, wenn der Mensch die Zusammensetzung der Erdatmosphäre verändert. In schier unendlich rückgekoppelten Wirkungsgefügen greifen dabei Atmosphärengase, Wolkenbildung, Strahlungsreflexion, Meeresströmungen, Biosphäre und vieles andere mehr ineinander. Zwar ist der Weg noch weit, aber der Fortschritt gleichwohl enorm; viele Zusammenhänge hat man erst durch diese Rechenmodelle begriffen.
Wo bleibt das Pendant in der Ökonomie? Es müsste ein Modell sein, das Faktoren wie Bruttosozialprodukt, Gesundheits- und Sozialstandards, Arbeitskosten, Bildungsstand, Rohstoffangebot, Umweltverbrauch und vieles mehr als komplexes Wirkungsgefüge darstellt. Nur: Dergleichen gibt es nicht. Oder besser: nicht mehr. In den vergangenen Jahrzehnten allerdings gab es Wissenschaftler, die in dieser Richtung forschten. Etwa Eduard Pestel, der in den Siebzigern sein „Deutschlandmodell“ entwickelte, oder Jay W. Forrester mit seinem „Weltmodell“, das ein Wirkungsgeflecht zwischen Produktion, Lebensqualität, Nahrungsangebot, Rohstoffen und so fort darstellte. Und natürlich Frederic Vester, der das Thema nicht zuletzt in seinem Spiel „Ökolopoly“ so anschaulich darstellte.
Daran ließe sich anknüpfen. Doch die heutige Wirtschaftslehre verweigert sich einer solchen systemischen Analyse von Wechselwirkungen – auch aus ideologischen Gründen. Mal hört man, wie Ökonomen die Denkweise in Regelkreisen als planwirtschaftlich missverstehen – was, mit Verlaub gesagt, ziemlich absurd ist. Mal hört man, dass Ökonomen lieber in scheinbarer Logik schwelgen, als die realistische Komplexität ihres Fachgebiets zu ergründen, weil sich einfache Weisheiten immer besser an den Mann bringen lassen. Hinter vorgehaltener Hand macht dann auch schon mal das Wort „Selbstschutz“ die Runde. Nach dem Motto: Wir werden uns hüten, uns unsere banalen Weisheiten kaputtzumachen.
Das ist zu kurz gedacht. Die Lehre der Ökonomie muss sich als Wissenschaft von einer Ideologie abgrenzen – und das heißt auch: selbstkritisch Grenzen erkennen. Wenn Ingenieure ein Problem nicht lösen können, haben sie keine Scheu, das zu sagen. Wenn Mediziner eine Krankheit noch nicht im Griff haben, stehen sie gleichermaßen dazu. Nur Volkswirtschaftler tun immer so, als wüssten sie alles. Oder hat man schon einmal einen Ökonomen sagen hören, die heutige Volkswirtschaft sei unfähig, zu berechnen, was Hartz IV letztendlich bringen wird? Hat man nicht. Obwohl die heutige Lehre Derartiges mit ihrer eindimensionalen Denke tatsächlich nicht vermag.
Aus diesem Grund ist auch so sensationell, was kürzlich drei Harvard-Ökonomen, darunter Professor Dani Rodrik, eingestehen mussten: die Ratlosigkeit der Volkswirtschaft in ihrer heutigen Form. Die Wissenschaftler hatten versucht, zu ergründen, warum bestimmte Länder zu bestimmten Zeiten erfolgreiche Wirtschaftsnationen sind und warum es andere nicht sind. Und warum alles ein Jahrzehnt später schon wieder völlig anders aussehen kann. Das Fazit war so ernüchternd, als müsste die Medizin plötzlich eingestehen, nicht einmal die Grundzüge des Stoffwechsels zu beherrschen: Es gibt bisher keine schlüssige Theorie, die beschreiben könnte, warum ein Land gerade ökonomisch gut oder schlecht dasteht.
Die Ökonomen sollten beginnen, sich ein wenig zurückzuhalten. Erst in dem Moment, in dem die Wirtschaftsforschung ihre Wissenslücken eingesteht, wird sich vielleicht der Weg ebnen für neue, komplexere Formen ökonomischen Denkens.
BERNWARD JANZING