: Sehnsucht satt
Echtes Leben findet statt, wenn sich Fleisch, Blut und Text vermischen: Igor Bauersima inszeniert in Düsseldorf sein eigenes Stück „69“, das vom Menschenfresser aus Rotenburg inspiriert wurde
von MORTEN KANSTEINER
Was sie essen wolle, fragt der Mann. Die junge Frau, die er verhört, antwortet: „Einen Kuchen, was weiß ich. Einen …“ Sie hält inne, bevor sie hinzufügt: „Mann! Echt.“ Zwei Wörter, zwei Bedeutungen. Zum einen: kleiner Scherz unter Kannibalen. Denn die Frau wird verdächtigt, Menschen gegessen zu haben; sie entstammt einem Stück, das Igor Bauersima geschrieben hat, nachdem er über den realen Fall von Kannibalismus in Rotenburg gelesen hatte. Zum anderen lässt Birgit Stöger bei der Uraufführung in Düsseldorf entmutigt Kopf und Stimme sinken, wenn sie die bewussten Wörter spricht. Schon werden sie zu einem Seufzer der Verzweiflung.
Im Prinzip hat Bauersima mit „69“ ein schlichtes Stück geschrieben. Es gibt zwei Figuren und drei Szenen: Der Mann verhört die Frau; die beiden verabreden im Netz, dass sie ihn töten und verspeisen wird; sie treffen, offenbar zu diesem Zweck, irgendwo am Meer zusammen. Aber aus der Nähe betrachtet, beginnt das Ganze zu changieren. Nichts ist hier eindeutig. Während des Rendezvous am Meer fabriziert der Mann zum Beispiel folgenden Satz: „Die Zitathaftigkeit unseres Denkens und die Austauschbarkeit der Werte, das ist doch eine traurige Tatsache.“ Klingt irgendwie plausibel: Alles ist gesagt, die Werte wackeln, klar. Trotzdem ist der Satz hier falsch. Denn im Allgemeinen schwingen die Dialoge in dem geschmeidigen Umgangston, der Bauersimas Stücke oft auszeichnet. Substantive, die eher im „ZDF nachtstudio“ oder einem anderen gelehrten Zirkel zu Hause sind, klingen gerade in diesem Umfeld ganz schön hohl.
Einige Minuten später behauptet der Mann jedoch, er habe alles nur vorgetäuscht. Er wolle gar nicht gefressen werden, sondern Beweise gegen die Frau sammeln. Insofern war es also richtig, dass sein Satz falsch klang. Denn sein Ennui war unecht. Wobei, auch da kann man nicht so sicher sein. Vielleicht schiebt der Ermittler seinen Job nur vor, vielleicht hat er sein Leben tatsächlich satt und will seinerseits die junge Frau sättigen.
Was man von dem Kerl hält, hängt nicht zuletzt davon ab, welche Version von „69“ man sieht. Es gibt nämlich drei, von denen zwei bislang Premiere hatten. Jede präsentiert dieselben Szenen, aber in unterschiedlicher Reihenfolge. An einem Abend sieht man eine Geschichte über einen Polizisten, der sich mit der Verdächtigen verabredet, nachdem er sie bereits befragt und laufen gelassen hat. In dem Fall könnte es schon sein, dass ihn die Sehnsucht nach einem spektakulären Tod antreibt.
Wenn er sich hingegen erst als Opfer anbietet und die Frau später verhört, war er wohl doch nur auf eine Verhaftung aus. Wer was aus welchem Grund macht, ist in der Welt von „69“ oft schwierig zu bestimmen. Trotzdem erklärt die junge Frau, beinahe dreist: „Ich bekenne mich zur Wirklichkeit.“ Sie ist im Stück für die Bestimmtheiten zuständig, während ihr Gegenüber Unschärfe vertritt. Er wundert sich, wo das „echte Leben“ geblieben ist. Sie hingegen will es führen – ohne dass ihr da unnötig jemand reinredet. Wenn sie zum Beispiel Lust hätte, jemanden zu essen, der sich dafür zur Verfügung stellt, ganz hypothetisch gesprochen – warum sollte sie das nicht tun?
Am Schluss muss man auf ihrer Seite sein. Denn so wie Bauersima die beiden angezogen und inszeniert hat, macht sie einfach die bessere Figur. Michael Abendroth zeigt den Ermittler als Inkarnation der Beherrschung: korrekte Kleidung, die Arme immer eng am Körper, die Schritte gemessen. Birgit Stöger hingegen spielt Rebell und Vamp in einem. Trotzig stemmt sie die Arme auf die Stuhlkante, wenn sie in der Zelle sitzt. Lässig hockt sie am Lagerfeuer, über dem bald ihr Opfer brutzeln könnte. Zwischen den Szenen singt sie Kannibalenlieder zur E-Gitarre, lässt die Hüfte kreisen und die Schenkel schnappen.
Ja, sie verfügt nach Belieben über das Vokabular der Verführung: eine platinblonde Perücke, eine verträumte Wärme in der Stimme, zwei naiv gerundete Augenbrauen. Nur weil die junge Frau an die Wirklichkeit glaubt, verzichtet sie noch lange nicht auf den Fundus audiovisueller Fiktionen. Sie bedient sich gerne bei den Femmes fatales der 40er und ähnelt ein wenig den Heldinnen des Luc Besson.
Der entscheidende Punkt ist ein anderer: Sie macht das gut, übertreibt nicht, wirkt durch und durch lebendig. Dem Text voll von doppelten Böden und dramaturgischen Tricks entsteigt eine Figur aus Fleisch und Blut. Das echte Leben im ambivalenten sozusagen. Bauersima hat seiner Schauspielerin schon vor drei Jahren, im Erfolgsstück „norway.today“, diese trostreiche Erkenntnis in den Mund gelegt: „Fake kann total echt sein, manchmal.“