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Archiv-Artikel

Eine Sekunde Kunst

Durch den U-Bahnhof Alexanderplatz rast jeden Abend ein Formel-1-Wagen – zumindest akustisch. Der Künstler Micheel will so den Fetisch Auto ironisieren. Doch die Überraschung hält sich in Grenzen

VON ULRIKE LINZER

Knapp eine Sekunde jagt ein ohrenbetäubender Motorenlärm durch den U-Bahn-Schacht der U2 am Alexanderplatz. Doch nicht Schumi rast in einem röhrenden Flitzer vorbei, sondern die Wartenden werden mit der Soundinstallation „fortissimo“ des Künstlers Stefan Micheel konfrontiert – sie ist Teil des Wettbewerbs „Alexanderplatz U2“, den Kulturverwaltung und BVG unterstützen. Micheel hat Motorengetöse bei Formel-1-Rennen aufgenommen, das in der 132 Meter langen U-Bahn-Halle allemal höllischer klingt als im Freien.

Jeweils um 22.30 Uhr wird bis zum 18. November das von der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst (NGBK) ausgelobte und betreute Projekt den Schacht beschallen. 16 hintereinander geschaltete, auf die gesamte Streckenlänge verteilte Boxen sorgen für die originalgetreue Wiedergabe. Wenn das Motorengebrüll in Richtung Pankow vorbeirauscht, schaut der eine oder andere dem Geräusch unwillkürlich hinterher, ähnlich der Kopfbewegung eines Schumi-Fans auf dem Nürburgring.

„Der Rennwagen ist der gekrönte Star aller Kraftfahrzeuge, der Fetisch unserer mobilen Gesellschaft, der erotisierende Werbeträger unserer Konsumgesellschaft“, sagt Stefan Micheel. Der 1955 geborene Video- und Projektkünstler will mit seiner Installation nicht nur den – meist männlichen – Hang zu Motoren und Gaspedalen ironisieren, sondern darüber hinaus zwei Arten der motorisierten Fortbewegung miteinander verbinden. Den U-Bahn-Tunnel bezeichnet er als „Schnittpunkt verschiedenster städtischer Mobilitätsrouten“. Während der öffentliche Verkehr Menschen zusammenbringt, vereinzele der motorisierte Individualverkehr und schaffe sich im Rennwagensport seine Stars, so Micheels Analyse.

Im U-Bahnhof Alexanderplatz werden seit den Achtzigerjahren Kunstprojekte im öffentlichen Raum inszeniert. Micheels Werk ist das vorletzte Projekt der Reihe „Kommunikationsstrategien der Werbung“, die im November 2003 startete. Es ist das erste, dass nur mit Geräuschen arbeitet und dass weniger als eine Sekunde pro Tag wahrnehmbar ist.

„Leider geht aber der Überraschungseffekt meiner Installation verloren, da die Sicherheitsauflagen der BVG eine zweifache warnende Vorankündigung vorschreiben“, sagt Micheel. Endlose Sitzungen mit den Organen der BVG-Betriebstechnik hatten die Planung des Kunstwerks verzögert und seine Umsetzung an Bedingungen geknüpft.

Jetzt kündigt eine softe Frauenstimme einen tosenden Lärm an, der dann aufgrund seiner minimalen Dauer eher zur Verwunderung als zu Schock oder Entsetzen führt. Enttäuscht bis erheitert zeigen sich die Bahnsteig-Stehenden, warten neben ihrer Bahn nun auch auf die Fortsetzung beziehungsweise den Höhepunkt der angekündigten Kunstaktion.

Doch die ist Abend für Abend nach weniger als einer Sekunde beendet, für den erneuten Genuss muss der nächste Tag anvisiert werden – selbe Zeit, selber Ort.