DIE MINDERHEITEN-REPORT DER TÜRKISCHEN REGIERUNG IST EINE ZÄSUR
: Interne Zerreißprobe

In der Türkei geht es seit zwei Jahren Schlag auf Schlag. Kaum ist ein Reformpaket durchs Parlament, wird bereits das nächste diskutiert. Der Rahmen der Republik ändert sich rasant, und das wirft bei Skeptikern zwei Fragen auf: Erstens, wird die laizistische Verfasstheit des Staates mehr Freiheit und Demokratie überdauern? Und zweitens, wird der Zusammenhalt des Landes nicht zerstört? Die erste Frage betrifft die Begehrlichkeiten der Frommen, die zweite die Forderungen der Minderheiten. Mit Gründung der Republik wurde – mit Ausnahme der christlichen Minderheiten und der Juden – per Gesetz und Verfassung ein einiges Volk von Türken deklariert. Anders, glaubte man, wäre es unmöglich, aus den Überresten des osmanischen Vielvölkerstaates eine Nation zu bilden.

Dieses Credo wurde mit eiserner Faust gehütet, zuletzt im Bürgerkrieg gegen die kurdische PKK. Im Zuge der Debatte um die Rechte der Kurden und auf Druck der EU-Kommission ist nun ein Prozess in Gang gekommen, der mit einem gestern vorgelegten Minderheitenbericht eines Beratungsgremiums der Regierung seinen vorläufigen Höhepunkt erlebt. Erstmals wird nun offiziell festgestellt, dass es in Anatolien beileibe nicht nur Türken und Kurden, Armenier und Griechen, sondern auch Lasen, Tscherkessen, Kaukasier, Araber, Bosniaken und weitere ethnische, religiöse oder sprachliche Minderheiten gibt – und das alle diese Minderheiten das Recht haben sollen, sich in ihrer Differenz auszudrücken.

Für die Verfechter der alten Staatsdoktrin droht damit der Zerfall der Republik. Sie bekämpfen den neuen Geist erbittert. Tatsächlich rührt die Frage an die Grundfesten der Türkei. Umso wichtiger, dass sie nun endlich offen diskutiert wird. Was bisher mit dem Gewehr oder vor den Schranken der Gerichte ausgefochten wurde, ist nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Allerdings braucht es Zeit, bis daraus ein neues gesellschaftliches Übereinkommen wird. Man kann einen solchen Prozess von außen anstoßen, durchsetzen kann man ihn allerdings nicht. Das muss und wird von innen kommen. JÜRGEN GOTTSCHLICH