: Richter werden rechter
VON CHRISTIAN SEMLER
„If everything is bad, its good to know the worst“ – nach dieser Maxime zu verfahren empfiehlt sich, wenn man die Zukunft der Grundrechte in den USA angesichts der zweiten Amtszeit von George W. Bush ins Auge fasst. Wächter über diese Rechte ist der Oberste Gerichtshof, der „Supreme Court“, dessen Urteilstätigkeit in der Geschichte der USA stets ein Gradmesser für die Geltung der Freiheiten war, die in den „amendments“ zur amerikanischen Verfassung niedergelegt sind.
Um die Bedeutung dieses Gerichts zu ermessen, genügt es, auf die Entscheidungen zu verweisen, die nachhaltig die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft beeinflusst haben. Auf der positiven Seite stehen beispielsweise „Brown versus Board of Education“, ein Urteil, mit dem der liberale Gerichtshofs unter Earl Warren in den 60er-Jahren der Rassenintegration den Weg ebnete, oder „Roe versus Wade“, das die Abtreibung legalisierte. Freilich spiegelte der Gerichtshof in seiner Geschichte auch freiheitsfeindliche Tendenzen, wie die Urteile während der McCarthy-Ära zeigen, als die Meinungsfreiheit unter Hinweis auf die kommunistische Gefahr, die weltweite „clear and present danger“, entscheidend eingeschränkt wurde. Die Befugnisse des Gerichts einschließlich der Möglichkeit, Gesetze für verfassungswidrig zu erklären, ähnelt denen des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das nach dem Vorbild des „Supreme Court“ modelliert wurde.
Der Einfluss der jeweiligen Politik der amerikanischen Exekutive auf die Rechtsprechung ergibt sich aus der Verfassung, zeigt sich allerdings oft auf verschlungenen Wegen. Verschlungen deshalb, weil niemand eine Garantie dafür geben kann, dass Richter, einmal zum „Supreme Court“ berufen, nicht ihr Weltbild und damit ihre Meinung ändern. Die amerikanischen Bundesrichter aller Ebenen, also der Distrikts- , Kreis (Circuit)- und Bundesebene werden vom amerikanischen Präsidenten nominiert und vom Senat nach einer Anhörung bestätigt.
Greise oberste Richter
Was den Obersten Gerichtshof anlangt, so vollzieht sich die Wahl neuer Richter unter angespannter Teilnahme der Öffentlichkeit, eine Armada von Wissenschaftlern zeichnet das politische und juristische Profil der Kandidaten, und es gab Fälle auch in der jüngsten Vergangenheit, wo die Kandidaten den Senatstest nicht bestanden. Allerdings liegt es auf der Hand, dass bei klaren Mehrheitsverhältnissen im Senat wie jetzt die Hürde bei politisch umstrittenen Amtsanwärtern niedriger liegt. Einmal ernannt, können die Obersten Richter so lange amtieren, wie sie es für notwendig halten. Beispielsweise, weil sie auf einen Regierungswechsel hoffen. Von dem jetzt amtierenden Gericht ist nur ein Richter, der erzkonservative, von Präsident Bush senior ernannte Clarence Thomas, ein Afroamerikaner, jünger als 65 Jahre.
Als Oberster Richter amtiert der 80-jährige William Rehnquist, der von Präsident Nixon ernannt wurde. Er führt die konservative Mehrheit des Gerichts an. Gegenwärtig steht es 5 zu 4, wie bei dem Urteil, das die erneute Zählung der Stimmen in Florida bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 verbot und damit Bush ins Amt hievte.
Was heißt konservativ? Generell gesprochen die Übereinstimmung mit religiös geprägten Vorstellung zu Ehe, Familie und der Stellung der Frau, wie sie auch das Wahlergebnis von 2004 zum Ausdruck gebracht hat; der Versuch, fortschrittliche Elemente der Sozialgesetzgebung zugunsten ökonomisch Schwacher und Behinderter zurückzudrehen; Unterstützung freiheitseinschränkender Maßnahmen im Zeichen des Kampfs gegen den Terror; Betonung der gesetzgeberischen Rechte der Einzelstaaten gegenüber den Kompetenzen des Bundes, allerdings meist dort, wo die Einzelstaaten der konservativen Grundlinie folgen … Liberal bedeutet dabei nicht unbedingt die Gegenposition, wohl aber den Versuch, die aus der Kennedy/Johnson- und der Clinton-Ära noch verbliebenen demokratischen und sozialen Restpositionen zu verteidigen.
Allerdings schlagen sich die konservativen Überzeugungen nicht stets, nicht umstandslos in der jeweiligen „Opinion“ (Votum) nieder. Besonders die Richterin Sandra Day O’Connor, 74 Jahre, stimmt von Zeit zu Zeit, beispielsweise in der Abtreibungsfrage, mit der liberalen Minderheit, sodass bis jetzt „Roe versus Wade“ aufrechterhalten wurde. Auch das jüngste, das Recht der Internierten auf richterliche Nachprüfung der Haftgründe statuierende Guantánamo-Urteil kam durch Fahnenflucht aus der konservativen Mehrheit zustande. Ihr harter Kern besteht aus drei Richtern: William Rehnquist, Antonio Scalia (68) und Clarence Thomas.
Die nächste Generation
Hier nun eröffnet sich Bush ein Aktionsfeld, das die amerikanische Rechtsprechung für die nächste Generation bestimmen kann. Bush kann erstens den schwer kranken Rehnquist durch einen jüngeren Kollegen gleich konservativen Kalibers ersetzen. Er kann zweitens auf das Ableben oder den Rückzug des 84-jährigen John Paul Stevens, des Doyen der liberalen Minderheit, hoffen. Ebenso kann er drittens den Rücktritt der 71-jährigen Ruth Bader Ginsburg abwarten, einer ausgewiesenen Frauenrechtlerin, die von Präsident Clinton ernannt worden ist. Schließlich wird er die von Ronald Reagan ernannte, liberal-konservative Sandra Day O’Connor ersetzen, die sich schon seit längerem mit Rücktrittsgedanken trägt. Und das ist nur das Minimalprogramm. Bush muss nur vorsichtig taktieren, die Aufstellung sichtbar unterqualifizierter Bewerber vermeiden und seine Kandidaten bei der Vorstellung zur Mäßigung mahnen. Am besten, er präsentiert Juristen aus den Reihen der Hispanics oder zuverlässige Vertreter anderer Minderheiten. Das wird den demokratischen Senatoren den Einspruch schwerer machen.
Da das konservative Lager um die Bedeutung der Mehrheit im „Supreme Court“ weiß, wird es bei der Besetzung keine Kompromisse eingehen. Solche Hoffnungen entsprechen auch nicht Bushs bisherigem Politikstil. Auf dem Spiel steht deshalb zum einen der Freiheitsraum, der nach dem 11. September 2001 durch die beiden „Patriot Acts“ bereits gefährdet ist. Untere, liberal urteilende Bundesrichter haben in diesem Jahr in zwei Fällen Teile der „Patriot Acts“, soweit sie Überwachungsmöglichkeiten und Schweigepflichten betreffen, für verfassungswidrig erklärt. Kommen diese Fälle vor den „Supreme Court“, wäre das Gesetz bei einer Neubesetzung des Gerichts erst einmal sicher. Auch die zur Aburteilung der Guantánomo-Internierten eingerichteten Militärgerichtshöfe mit ihren eingeschränkten Möglichkeiten der Verteidigung würden dann der Nachprüfung standhalten. Hinsichtlich der Legalität von Abtreibungen wird es für konservative Einzelstaaten leichter werden, die Frauenrechte weiter zu beschneiden und so der Beseitigung von „Roe versus Wade“ den Weg zu bereiten. Umgekehrt steht dann zu befürchten, dass eine spätere Regierung, die für mehr Einwandererrechte, für den Schutz der Umwelt, für eine neue Sozialgesetzgebung kraft Bundesgesetze eintritt, auf den eisenharten Widerstand eines von George W. Bush geprägten Gerichts treffen wird.