: Nix gerafft
Eine seriöse historische Beschreibung der Auseinandersetzung zwischen RAF und Staat steht noch aus. Dafür kehren die Klischees der Boulevardpresse der 70er-Jahre wieder
Die Nachricht lautete: Andreas Baader hätte in Stammheim mit einer Anwältin ein Kind gezeugt. Die Betonung in diesem Satz liegt auf „hätte“ – eine Nachricht im Konjunktiv. Sie stammt von Horst Bubeck, damals stellvertretender Vollzugsleiter in Stammheim, der in Kurt Oesterles verdienstvollem Buch „Stammheim“ angibt, sich „ziemlich sicher“ zu sein, dass es so war.
Beamte hätten des Öfteren Sexgeräusche im Anwaltszimmer gehört. Das ist der vergleichsweise harte Teil der Nachricht. Dass die Anwältin von Baader und niemand anderem schwanger war, ist eine Spekulation, die Bubeck draußen vor der Zellentür anstellte. Es gibt also keine Nachricht, eher ein Gerücht. Doch Sex und RAF – das zieht. Nicht nur im Focus, auch in der taz (17. 11.). RAF sells.
Es ist möglich, dass diese Geschichte stimmt. In Stammheim, für viele Linksradikale damals Inbegriff der Isolationsfolter, hatten Baader, Ensslin & Co. sich mit Hungerstreiks Freiräume erpresst, die mit dem Bild der isolierten RAF-Gefangenen als Opfer staatlicher Willkür wenig zu tun hatten. Die Inhaftierten hatten zwar keinen Kontakt mit anderen Gefangenen, aber sie waren, zeitweilig mehrere Stunden, zusammen, hatten Radios, Zeitungen, Plattenspieler, Bücher.
Die Haftbedingungen in Stammheim waren tatsächlich in der Zeit von 1975 bis 1977 vergleichsweise freundlich. Aber dies war nicht, wie heute gelegentlich suggeriert wird, typisch für die Haft von RAF-Gefangenen. Vor Stammheim hatten es Baader, Meinhof und Ensslin mit strenger Einzelhaft zu tun, zu denen auch Schikanen wie nachts brennendes Neonlicht gehörten.
Die Zusammenlegung in Stammheim war erst möglich nach dem Hungertod von Holger Meins 1974. Erst danach wichen die offiziellen Stellen von ihrer Doktrin „Keine Zusammenlegung“ ab. Man wollte nicht noch einen RAF-Toten. Dies war einer der wenigen lichten Momente im ansonsten hysterischen Umgang von Staat und Justiz mit der RAF. Die Zusammenlegung in Kleingruppen war richtig, weil sie die Märtyrerproduktion der RAF, die ihre wirksamste Agitprop-Waffe war, einschränkte. Wäre die Zusammenlegung schon 1974 möglich gewesen, hätte Holger Meins vielleicht überlebt.
Zur Geschichte der Haftbedingungen gehört auch der Fall Katharina Hammerschmidt, einer RAF-Sympathisantin. Sie stellte sich 1972 den Behörden und starb in U-Haft an Krebs. Die Gefängnisärzte hatten bei ihr chronisches Simulantentum diagnostiziert. In der rechten Boulevardpresse pflegte man dennoch unverdrossen das Klischee von den Gefangenen, die im Knast in Saus und Braus lebten und ganz etwas anderes verdient hätten.
So waren die Haftbedingungen in den 70ern Kampfplatz einer Propagandaschlacht, in der beide Seiten, Unterstützerbewegung und Staat, mit gezinkten Karten spielten. Stammheim war das übercodierte Symbol für den uneingestandenen Ausnahmezustand, in dem sich die Republik bewegt. Für die Unterstützergruppen war es der sichtbare Beweis für den „weißen Faschismus“ der BRD, als dessen Opfer man sich selbst fühlte. Ensslin und Meinhof fantasierten sich sogar in die Rollen von Auschwitz-Häftlingen hinein.
Die Realität in Stammheim hatte nichts mit den Projektionen der Linksradikalen zu tun – aber auch wenig mit dem Bild des „sichersten Gefängnisses der Welt“, das die Offiziellen zeichneten. Der Untersuchungsausschuss, der nach 1977 der Frage auf den Grund gehen sollte, wie die Waffen in die Zellen gelangen konnten, förderte nebenbei Erstaunliches zu Tage. Die Beamten hatten den RAF-Gefangenen offiziell Briefe mit Hanfseilen ausgehändigt, abgeschickt von braven Bundesbürgern, damit die Inhaftierten sich gefälligst aufhängen. Die aggressive Paranoia herrschte in den 70ern bei Linksradikalen und in weiten Teilen der Mehrheitsgesellschaft.
Und heute? Im Kino und in Romanen ist Andreas Baader zum Gegenstand mythischer Überhöhungen geworden; als Rebel without a Cause, Popstar und Virilitätsmonster. So existiert die RAF virtuell als Objekt feuilletonistischer Betrachtungen weiter. Die ansonsten recht umfassende zeitgeschichtliche Forschung hat um das komplizierte Problem der Haftbedingungen und ihrer Instrumentalisierung bislang einen Bogen gemacht. Keine Dissertation, kein Buch weit und breit. Viel Meinungen, viel Deutung, viel Projektion – aber so genau will man es dann doch nicht wissen. Dazu passt, dass die seltsamste Debatte der letzten Jahre um die RAF kreiste: Mit viel Gesinnungsfestigkeit, eisernem Willen zur Abgrenzung und wenig Ahnung stritt man um eine RAF-Ausstellung in Berlin, von der es noch nicht mal einen Entwurf gab.
Die Linke hat diese Geschichte, die mal ihre war, schon lange ad acta gelegt. Die Mythen, die sie damals vom heroischen Widerstand im Knast und dem bösen Staat produziert hat, wurden allmählich vergessen, abgespalten. Es gab in den 80ern eine linke Entmythologisierung der RAF, aber sie hatte etwas Halbherziges, Verdruckstes.
Heute scheint nur noch das Schamhaar auf dem Resopaltisch in der Stammheimer Anwaltzelle zu interessieren. In einer bizarren Schleife ist man damit wieder bei dem Schlüssellochblick angekommen, den die Boulevardmedien in den 70ern inszenierten, bei den verschwitzten Schlagzeilen-Fantasien über „Mahler und seine Mädchen“, über Baader und Ensslin als Bonnie and Clyde und „heiße Nächte im Fedajin-Zelt“. In dem Hass, mit dem die yellow press die RAF in den 70ern betrachtete, steckte die geheime Sehnsucht nach dem Anderen, nach der Entgrenzung. Die Regenbogenpresse-Inszenierung der RAF bediente den bigotten Empörungsblick des Kleinbürgertums: moralisch erschüttert – und geil.
Die RAF war bekanntlich ein sehr deutsches Drama – bis hin zu dem (Selbst-)Vernichtungswillen der Stammheim-Gefangenen, die den Heldentod dem Eingeständnis ihren Scheiterns vorzogen. Dieses Drama wird in der Halb-Nachricht über Baader und seine Verteidigerin zur Operette. Und der hoch ideologisierte Streit um die Haftbedingungen schrumpft zur Sexaffäre.
Horst Bubeck hat viel dazu beigetragen hat, die Wahrheit über Stammheim ans Licht zu bringen. Doch mit solchen Geschichten, in denen Fakten und Gerüchte verschwimmen, riskiert er seinen Ruf als seriöser Zeitzeuge. Die taz wäre ohne die Nachrichtensperre im deutschen Herbst und das Gefühl der Linken 1977, hilf- und sprachlos zu sein, vielleicht nie entstanden. Wenn sie die RAF nun auf diesem Niveau verhandelt, vergisst sie ihre eigene Geschichte.
Die RAF, haben aufmerksame Zeitgenossen schon vor ein paar Jahren dignostiziert, ist direkt nach ihrer Auflösung 1998 im Stadium der Historisierung angekommen. Damit verband sich damals eine Hoffnung, dass ein distanziertes Sprechen über die RAF möglich wäre, ein Blick jenseits der Identitätsmuster von vorgestern. Das war offenbar ein Irrtum: Die RAF rückt ferner – und die verschmocktesten Klischees wieder näher.
STEFAN REINECKE