piwik no script img

Archiv-Artikel

Die Stunde der Philosophen

Glückliche Bielefelder und ratlose Dortmunder waren nach dem 1:0-Sieg des Aufsteigers auszumachen. Die Erklärungsversuche hoben schnell ins Reich des Metaphysischen ab

„Aber“, sinnierte der Niederländer düster, „im Leben geht nichts von selbst“

AUS BIELEFELDJENS KIRSCHNECK

Die historische Hypothek war gewaltig, aber da am Ende alles gut ausgegangen war, konnte Albrecht Lämmchen leichten Herzens mit ihr jonglieren. Auf den Tag genau vor 22 Jahren, wusste Bielefelds Vorstandsmitglied als Moderator der Pressekonferenz nach dem Spiel zu berichten, habe Arminia ebenfalls gegen Borussia Dortmund gespielt und mit 1:11 verloren. Zehn Treffer in einer Halbzeit hatten die Bielefelder seinerzeit kassiert, „aber seit damals “, sagte Lämmchen und genehmigte sich eine genüssliche Kunstpause, „hat sich offenbar einiges geändert.“

Das kann man so sehen. Nach dem 1:0 gegen die zuletzt zweimal in Folge siegreichen Dortmunder hat der ewige Aufsteiger Arminia bereits 17 Punkte auf dem Konto und findet sich auf Platz 9 wieder. Noch wichtiger als diese erfreuliche Bilanz dürfte den Bielefeldern sein, dass sie als vielfach vorgewetteter Abstiegskandidat Nummer eins zum wiederholten Male spielerisch überzeugen konnten. Nicht nur beim Tor des Tages durch den bereits achtmal erfolgreichen Delron Buckley (7.) lief der Ball wie ferngesteuert durch die Reihen der Ostwestfalen. „Die Mannschaft hat ihre Mittel optimal eingesetzt “, bilanzierte Trainer Uwe Rapolder und durfte sich über ein beinahe schon magisches Dreieck freuen, bestehend aus Buckley und den beiden Albanern Ervin Skela und Fatmir Vata.

Dagegen war beim Kontrahenten die gerade erst erholte Stimmung schon wieder im Keller. Warum sie die erste Halbzeit schlichtweg verschlafen hatten, blieb den Borussen ein Rätsel. Nach den Siegen in Berlin und gegen Leverkusen, mutmaßte Trainer Bert van Marwijk, hätten die Spieler wohl gedacht, es ginge alles von selbst. „Aber“, sinnierte der Niederländer düster, „im Leben geht nichts von selbst“. Ein fast schon philosophischer Ansatz, und man konnte erahnen, wie sehr es van Marwijk wurmte, dass sich seine Elf gegen die jederzeit engagierten Gastgeber über weite Strecken ausschließlich auf ihre vermeintlich größeren spielerischen Möglichkeiten verließ. Selbst eine ausgelassene halbe Chance aus der ersten Minute durch Florian Kringe stieß dem sonst so nachsichtig wirkenden Coach sauer auf: „Man kann schießen, um zu schießen, und man kann schießen, um ein Tor zu schießen.“

Was van Marwijk sagen wollte: Es fehlte der Borussia am letzten Willen, ihr Glück zu erzwingen. Ebenso schwer taten sich die Spieler, diesen Mangel zu erklären. Auf die Frage, wieso Dortmund so schwer ins Spiel gekommen sei, probierte Niclas Jensen eine rhetorische Ellipse: „Das ist schwer zu erklären. Wäre es einfach, wäre es nicht passiert.“ Auch Kapitän Christian Wörns war weitgehend ratlos, hatte aber immerhin eine Idee: Die Mannschaft habe sich nicht als Einheit präsentiert, sondern als eine Ansammlung von Einzelkämpfern.

Warum das im Angesicht der Krise zuletzt wesentlich bissigere Team sich anscheinend nur zusammenreißen kann, wenn es mit dem Rücken zur Wand steht, wusste Wörns nicht zu beantworten. „Ich weiß es nicht“, sagte er und fixierte einen imaginären Punkt an der Wand, „ich weiß es wirklich nicht.“ In Bielefeld kam Dortmund erst in Fahrt, als Schiedsrichter Doktor Helmut Fleischer Niclas Jensen Gelb-Rote gezeigt hatte. In Unterzahl agierten die Borussen auf einmal druckvoll und wären in der Schlussphase fast noch zum Ausgleich gekommen. In der fünften Minute der Nachspielzeit drosch Markus Brzenska das Leder über das leere Tor, stand dabei aber knapp im Abseits. „Anderweitig hätte ich mich erhängt“, bekannte der unglückliche Schütze und wählte damit als einer der wenigen Dortmunder klare Worte. Fatalismen, von denen die Bielefelder weit entfernt waren, doch zum Philosophieren neigten auch sie. „Wir dürfen die Gedanken nicht fliegen lassen“, mahnte Fatmir Vata trotz des glänzenden Starts zur Vorsicht. Andererseits hat diese Mannschaft vielleicht das Zeug, der von 1982 nachzueifern: Sie landete ungeachtet des besagten 1:11 am Saisonende auf Platz 8.