: Taten statt Warten
Gegen einen bigotten Amerikanismus hilft nur eine liberale Zivilgesellschaft. Die Europäer sollten gemeinsame Initiativen mit fortschrittlichen Kräften in den USA starten
In Wirklichkeit handelt es sich bei dem Prozess, den Europäer als „Amerikanisierung“ fürchten, um die Herausbildung der modernen Welt mit all ihren verwirrenden Erscheinungen und Auswirkungen. Es ist wahrscheinlich, dass dieser Prozess durch den Zusammenschluss Europas eher beschleunigt als gebremst wird, wobei diese Föderation ihrerseits höchstwahrscheinlich eine Conditio sine qua non für das Überleben Europas darstellt. Ob der Zusammenschluss Europas vom Anstieg eines antiamerikanischen paneuropäischen Nationalismus begleitet wird, wie man heute manchmal befürchten könnte, oder ob das nicht geschieht, die Vereinheitlichung der ökonomischen und demographischen Verhältnisse wird mit großer Sicherheit einen Zustand schaffen, der der Situation in den Vereinigten Staaten sehr ähnlich sein wird … Im Ausland ist der Antiamerikanismus … vor allem deshalb sehr viel gefährlicher als alle Tiraden gegen ein imperialistisches, kapitalistisches Land, … weil diese Ideologie mit einem wachsenden „Amerikanismus“ zu Hause korrespondiert.
Hannah Arendt, 1954
Vor einem halben Jahrhundert, als Hannah Arendt dies schrieb, war die europäische Furcht vor einer „Amerikanisierung“ weniger ökonomisch als kulturell motiviert. Sie bezog sich auf die beunruhigende Veränderung der Lebenswelt: Der flachen amerikanischen „Zivilisation“ stellte man gern die Tiefe europäischer „Kultur“ gegenüber. Die Entsprechung zum antiamerikanischen Ressentiment war der „Amerikanismus“ einer damals aufstrebenden Supermacht – America first. Was die hellsichtige Vordenkerin des antitotalitären Diskurses nicht voraussehen konnte, war ein Amerikanismus ganz anderer Art: Ein aus dem amerikanischen Herzland stammender christlicher Fundamentalismus gefährdet das städtische, das weltoffen-säkulare, das liberale Amerika.
Fassungslos sind wir Zeugen einer konservativen Revolution, die sich gegen die „Herausbildung der modernen Welt mit all ihren verwirrenden Erscheinungen und Auswirkungen“ im Mutterland der Moderne selbst richtet und die amerikanische Zivilgesellschaft attackiert. Der innenpolitische Aufstieg der religiösen Rechten in den USA kann das aufgeklärte Europa ebenso wenig unberührt lassen wie die drohende Fortsetzung einer missionarischen Außenpolitik. Nach allem, was wir wissen, hat neben dem safety issue die Frage der moral values diese Wahlen entschieden. Die Nation hat sich einem Präsidenten anvertraut, der nicht nur versprochen hat, die nationale Sicherheit zu garantieren, sondern auch, das Land kulturell auf den christlichen Tugendpfad zurückzuführen. Schon im eigenen Interesse muss Europa hier handeln. Denn die Erfahrung zeigt – auch dies ein Symptom der zusammenwachsenden Weltgesellschaft – dass amerikanische Kulturwellen mit abnehmender Verzögerung über den Atlantik schwappen: Was in der Clinton-Ära die Hegemonie der Linken in Westeuropa befördert hat, könnte in der Bush-II-Ära zum Vorboten eines neokonservativen Rückschlags werden – mit einer europäischen Renaissance der Religion als Zugabe. Was tun dagegen?
Wenn die US-Regierung ihr versprochenes Programm einer religiösen Erneuerung des Landes erfüllen will, kann das nicht ohne Verwerfungen vonstatten gehen. Ein Supreme Court mit neu ernannten Richtern, der etwa das Recht auf Abtreibung kassieren wollte, wird mit Widerstand auf den Straßen zu rechnen haben. Die öffentliche Mobilisierung der Frauen, die um ihre Selbstbestimmung kämpfen, wird zunächst eine Aufgabe der inneramerikanischen Opposition sein. Aber eine europäische Öffentlichkeit kann eine solche Bewegung wirkungsvoll unterstützen. In solchen sozialen Fragen wird es strategisch darauf ankommen, die liberale Fraktion der republikanischen Partei vom bibeltreuen Mainstream zu trennen. Leute wie New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg oder der in Ökologie- und Bürgerrechtsfragen aufgeschlossene Arnold Schwarzenegger werden einen strammen Rechtskurs religiöser Eiferer nicht mitmachen.
Was Bushs Meisterstrategen Karl Rove gelungen ist und was Kerry versäumt hat, nämlich das eigene Lager kulturell weit über die Parteigrenzen hinaus auszudehnen, müssen die Demokraten jetzt beginnen. Die Liberalität der amerikanischen Zivilgesellschaft zu erhalten wird dann zu einer Aufgabe, an der eine neuartige transatlantische Partnerschaft wachsen kann.
Und der „Krieg gegen den Terrorismus“? Gewiss, die neokonservative Regierung hat nach 9/11 die Verunsicherung geschürt und die reale Bedrohung wie im Falle des Irak übertrieben, um sich dem Empire nach innen und außen als starke Führung anzubieten. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, deren andere Hälfte in Europa gern übersehen wird: Die Angriffe auf New York und Washington haben wirklich stattgefunden und ein Trauma im Unbewussten der Nation hinterlassen. Es erinnert an die eigentliche Gefahr, der sich die Weltgesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausgesetzt sieht: einem Totalitarismus islamischer Machart, dessen Blutspur sich seit einem Vierteljahrhundert durch den erweiterten Mittleren Osten zieht, von Nord- und Ostafrika bis nach Zentralasien. Ideologisch versorgt er sich aus dem Erbe von Nationalsozialismus und Kommunismus und beherrscht zudem die Rhetorik der Globalisierungskritik, wie Bin Laden in seinem Wahlkampf-Video vorgeführt hat.
Hier irren die neokonservativen Weltverbesserer, die zu glauben scheinen, der islamistische Terror lasse sich austreiben wie der Teufel durch den Exorzismus. Terror ist bloß die Methode. Das totalitäre Projekt des Gottesstaats, dem der heilige Krieg dient, kann freilich auch nicht durch Entwicklungshilfe, Schuldenerlass und Appeasement-Politik zivilisiert werden.
Hier zeigt sich eine europäische Blindheit, die allzu häufig mit Duldsamkeit und Tatenlosigkeit einhergegangen ist. Dem aggressiv-unilateralen Aktivismus der USA lässt sich glaubwürdig nur entgegentreten, wenn wir selbst Verantwortung für den Zustand der Welt übernehmen. Dem vereinten Europa müsste gelingen, was John Kerry versäumt hat: die amerikanische Gesellschaft für gemeinsame Initiativen zu gewinnen, um die Globalisierung auf gerechte Weise zu regulieren, den radikalen Islamismus zu isolieren, den Irak politisch zu stabilisieren, die Irankrise effektiv zu moderieren, etwas gegen die Klimakatastrophe zu unternehmen usw. Eine solche Agenda sollte auch unseren Amerikakritikern einleuchten, welche die Vereinigten Staaten gern am Rande des Faschismus wähnen.
MARTIN ALTMEYER DANIEL COHN-BENDIT