: Verzahnter Jammer
Gerhart Hauptmanns Stück „Die Ratten“ wird im Bremer Schauspielhaus zur Betroffenheitsattacke
Damen in Cocktail-Party-Outfit, eine verpackte Giraffe, ein überdimensionales Plastik-Krokodil und trashige Dalli-Dalli-Musik zum Einstand: der Abend könnte lustig werden. Oder peinlich. Jedenfalls sieht zunächst alles so aus, als würde er die Erwartungen enttäuschen, die an Gerhart Hauptmanns Stück geknüpft sind: „Die Ratten“ nämlich erzählen von Kindesraub. Und Mord. Und von einer verstoßenen Tochter und einem verstoßenen Sohn und einem Selbstmord und kein Mensch weiß, wieso Hauptmann dem Ganzen 1911 den Untertitel „Tragikomödie“ gab. „Tragödie“ allein hätte besser gepasst.
Bittere Pillen also bei Hauptmann und bittere Pillen auch auf den Brettern des Bremer Schauspielhauses: Kaum ist der letzte Takt von Dalli-Dalli verklungen, steht da schon eine fies drängelnde Frau John über dem schwangeren Dienstmädchen Pauline und will ihr das Kind abschwatzen. Denn für Pauline ist das Kind ein Unfall und für Frau John wäre das Kind die Erfüllung ihrers großen Traumes – sie selbst kann keines kriegen und ihr Ehemann fordert einen Stammhalter.
Frau John schafft es, Pauline zu überreden und bringt damit den Stein ins Rollen. Wobei die „Ratten“ nicht allein um Frau John kreisen: Die Familie Hassenreuther zerreibt sich im gleichen Haus an der Partnerwahl ihrer Tochter. Die Familie Knobbe ist schon zerrieben, so sehr, dass ein Kind aufgrund mangelnder Pflege stirbt. Und in der Familie Spitta verstößt der Vater den Sohn – weil der mit der Tochter von Familie Hassenreuther will. Eine Tragödie jagt die nächste, der Jammer verzahnt sich, und „Die Ratten“ werden immer mehr zu einem Intimitätenkarussell, das Charaktere präsentiert, aber keine stringente Handlung.
Regisseur Nicolai Sykosch stört das wenig. Zwar sind die Kostüme seiner „Ratten“ nicht von 1911, aber der Saft, den er aus dem Stück saugt, soll es sein: Im kargen Bühnenbild konzentriert sich dieser Theaterabend ganz auf die Charakterdarstellung, darauf, die Bühne zum Sprechzimmer des Seelenkenners Hauptmann zu machen. Den SchauspielerInnen des Bremer Theaters gelingt das auch gut. Allein: Es lässt sich 2003 nichts interessantes entdecken in den fast 100 Jahre alten Abgründen der Hauptmann-Figuren.
Was nach zweieinhalb Stunden zurückbleibt, ist ein Achselzucken. Der Eindruck einer seltsam fehlgeschlagenen Betroffenheitsattacke. Klaus Irler
nächste Vorstellungen: 24. und 28.11.