„Schaufensterkapitalismus ist vorbei“

Schrumpfende Ostdeutsche: Ein Gespräch mit dem Soziologen Wolfgang Engler und dem Architekturkritiker Wolfgang Kil über Etatismus, Eliten und die Delegitimierung der Ostdeutschen. Ist der Clinch zwischen Ost und West in Deutschland überlagert vom Grauschleier des allgemeinen Ekels?

INTERVIEW ANNETT GRÖSCHNER

Annett Gröschner: Fangen wir mit den Vorurteilen gegenüber Ostdeutschen an. Lassen sie sich durch Fakten oder Beweise bestätigen? Ich nehme mal das Vorurteil, dass Ostdeutsche etatistisch sind.

Wolfgang Kil: Das ist belegbar. Auf dich, Wolfgang, trifft es genauso zu wie auf mich.

Wolfgang Engler: Ich halte das für ein absolutes Missverständnis.

Kil: Du meinst, du bist nicht etatistisch?

Engler: Ich glaube, dass wir Ostler ein viel skeptischeres Verhältnis zum Staat hatten.

Kil: Das ist wieder was anderes. Wir haben den Staat nicht als politologische Konstruktion, sondern in seiner damaligen Form abgewählt.

Am 4. November 1989 wurde ja nicht die Abschaffung des Staates gefordert.

Kil: Es wurden bürgerliche Rechte wie die Demonstrations- und Meinungsfreiheit gefordert.

Engler: Ganz sicher aber nicht, dass der Staat sich aus der sozialen Verantwortung stiehlt. Wir dachten aber 1989 auch, im Hafen der staatlich regulierten Marktwirtschaft anzukommen. Das ist nicht passiert, und gerade weil sich der Osten bewegt hat. Das schwedische Modell war das Ziel. Das ist das einzige Sozialstaatsmodell, in dem nachweislich durch empirische Studien die soziale Vererbung keine Rolle spielt. Deine Herkunft hat dort nichts mit dem Weg zu tun, den du in der Gesellschaft machst. Das ist schon eine große Leistung.

Haben Ostdeutsche eine Chance, Teil einer bundesrepublikanischen Elite zu werden? Es gibt ja Studien, die nachweisen, dass in der Bundesrepublik bis heute immer noch die Herkunft zählt.

Engler: Diese Versuche sind gescheitert.

Kil: Es hat ja nach der Wende im Osten den Vorgang des Elitewechsels gegeben. Die Übernehmergeneration, Leute in unserem Alter, sind auf null gestellt worden. Eigentlich kann man es erst wieder sagen, wenn die nächste Generation ins Funktionsalter gekommen ist. Diese Frage ist völlig offen, ob es für diese Generation dann noch eine Prägung gibt.

Ist es möglich, dass in den nächsten 25 Jahren ein Ostdeutscher Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen werden kann?

Engler: Das ist unmöglich.

Kil: Aber Angela Merkel kann Bundeskanzlerin werden. Ihre Herkunft spielt eine weitaus geringere Rolle in der Öffentlichkeit als beispielsweise die von Wolfgang Thierse.

Engler: Das ist ein Sonderfall. Ausnahme ist die PDS, die eines der wenigen Karrierefelder ist, wo Ostdeutsche eine Laufbahn machen können als Staatssekretäre, Minister, Senatoren.

Ihr habt euch in den letzten 15 Jahren vorwiegend mit ostdeutschen Themen beschäftigt. Hat sich aus eurer Sicht die Auseinandersetzung im Laufe der Jahre verändert? Es gab ja innerhalb des bundesrepublikanischen Diskurses verschiedene Phasen, zuerst die Euphorie, dann den Jammer, die Ablehnung und schließlich die Verpittiplatschisierung des Themas.

Kil: Ich habe das Gefühl, es hat sich gar nichts geändert in der Diskussion. Im Laufe der Zeit bin ich vorsichtiger geworden, mit wem ich noch was verhandele. Es hat von der anderen Seite her keine Positionsänderung gegeben. Ein hoch intelligenter Mensch hat mir in einem unkontrollierten Moment gesagt, der Osten sei diskreditiert durch seine totalitäre Erfahrung, und die braucht mindestens zwei Generationen, um aus der Kultur zu verschwinden. Und da habe ich zurückgefragt, wie er sich das vorstellt, und da hat er gesagt: zwei Generationen unter Quarantäne. Zwei Generationen lang müssen Unbelastete, also Westler, die Geschäfte führen. Ein anderer maßgeblicher Stimmführer hat es so formuliert: Unser bisheriger Auftrag war die Delegitimierung der ostdeutschen Geschichte, und mit dieser Arbeit sind wir durch. Wer immer also mit diesem Fähnchen auftrat, dem sollte der Rückhalt entzogen werden.

Meine Erfahrung ist, dass das Interesse an ostdeutschen Themen im Ausland viel größer ist als im Westen der Bundesrepublik.

Engler: In Westeuropa oder Skandinavien war die Aufnahme viel unbefangener und interessierter als im Westen Deutschlands. Ich glaube, weil sie frei sind von dem deutsch-deutschen Clinch.

Kil: Innerhalb Deutschlands ist das immer überlagert von diesem Grauschleier des allgemeinen Ekels.

Engler: Es hängt auch damit zusammen, dass in Skandinavien oder Frankreich der latente Antikommunismus nicht so ausgeprägt war. Die fanden ja zum Teil ganz gut, dass es zwei Deutschlands gab. Viele von denen haben mehr Anteil am sozialen, politischen und kulturellen Leben Ostdeutschlands genommen als die Mehrheit der Westdeutschen.

Kil: Die Diskussion über die Zukunft von Plattenbauten ist in Holland leichter zu führen als in Deutschland. Eine sachliche Debatte ist hier kaum möglich.

Gerhard Gundermann hat Anfang der 90er-Jahre mal in einem Interview eine Metapher für das Ost-West-Verhältnis formuliert: Trabant und Mercedes rasen auf einen Abgrund zu, der Trabi fällt gleich nach unten und der Mercedes fliegt noch eine Weile. Hat die alte Bundesrepublik den Zeitpunkt der Modernisierung verpasst?

Kil: Diese gezähmten Kapitalismen waren alle Schaufensterkapitalismen. Mit dem Wegfall des Sozialismus hatte sich die soziale Marktwirtschaft überlebt.

Engler: Das ist nur ein Teil der Antwort. Wenn die soziale Marktwirtschaft nur dieser Konkurrenzgesellschaft geschuldet war, dann bleibt ja doch der Fall, dass die sozialen Bewegungen, die Gewerkschaften, keine Erfindung der Bundesrepublik sind, da stehen ja 150 Jahre Kämpfe und Auseinandersetzungen dahinter. Und die sind in einer so fundamentalen Krise, dass sie sich nur beugen können.

Kil: Die Gewerkschaften reden in einem Vokabular der 50er- und 60er-Jahre.

Engler: Es ist doch eigenartig, dass im Sommer fast nur Ostdeutsche gegen Hartz IV demonstriert haben. Als wären die Westdeutschen davon nicht betroffen. Inzwischen sieht man ja deutlicher, dass die Krise auch im Herzen der alten Bundesrepublik angekommen ist, dass ein ähnlicher Prozess dort greift. Karstadt und Opel sind ja wirklich die Flaggschiffe der alten Bundesrepublik.

Kil: Wenn VW noch in diese Krise gezogen wird und Siemens nach China geht, dann würde ich dir zustimmen.

Ich sehe in den osteuropäischen Staaten ein größeres Selbstbewusstsein und einen Stolz, aus eigener Kraft die Gesellschaft transformiert zu haben. Haben wir Ostdeutschen uns das Selbstbewusstsein abkaufen lassen?

Engler: Die Zeugnisse der objektiven Leistungen sind rar, weil sie uns von den Westdeutschen hingesetzt wurden. Wir haben nur die Leiden kollektiv durchlebt. Wer waren die Architekten, die Städteplaner, wer hat die Infrastruktur geplant, wo sind die ostdeutschen Unternehmer, Professoren, Banker? Welche Medien sind in ostdeutscher Hand. Selbst die Mahnmale zur ostdeutschen Vergangenheit werden von Westdeutschen gemacht.

Kil: Ich weiß nicht, wie das ostdeutsche Selbstbewusstsein wirklich tickt. Ich leide darunter, dass in Ermangelung eines ostdeutschen Diskurses die meisten Ostdeutschen nicht in der Lage sind, aus dem Stand heraus ihre Situation allgemein verständlich zu beschreiben. Da fehlt einfach die Praxis. Man hat es zu DDR-Zeiten nicht gelernt und jetzt auch nicht.

Ist der Osten ein Brennglas für Prozesse, die eigentlich weltweit laufen?

Engler: Im Osten sind die Prozesse stärker, man kann sie besser beobachten, und sie sind dadurch natürlich auch beklemmender. Es gibt nur einiges, was mit der ostdeutschen Vergangenheit in Zusammenhang steht. Im Allgemeinen sind wir in einem unbeherrschten sozialen Prozess überall auf der Welt, der uns keinen Halt mehr gibt. Und diese Entwicklung kann man im Osten Deutschlands in einer gewissen Prägnanz sehen. Mit einer Ausnahme hat das nichts mehr zu tun. Die Denkfaulheit der Westdeutschen ist ja, dass man immer noch denkt, das ist die Anomalie, die durch 40 Jahre DDR hervorgerufen wurde, das normalisiert sich. Das wird der Sache nicht gerecht. Wir stehen mit dem Gesicht zur Front der Globalisierung. Das neue Paradigma wird jetzt abgespult, die Zeiten verschärfen sich, Milliarden werden in existenzielle Krisen geworfen, und am Ende steht die Frage, ob sich etwas verändert oder alle gemeinsam untergehen. Das ist eine weltweite Krise der guten Arbeit, der Widerstandsfähigkeit der Arbeitnehmer, eine totale Defensive der Nationalstaaten.

Kil: Und was ist mit der Ökologie?

Engler: Nach meiner völlig unmaßgeblichen Auffassung schmelzen zuallererst die Polkappen.

Kil: Die Revolution würde also ertrinken?

Engler: Möglicherweise.

Die Frage ist ja, wer im Besitz der Boote ist.

Engler: Da haben wir ja einen schönen optimistischen Schluss gefunden.

WOLFGANG ENGLER, Jahrgang 1952, ist Soziologe. Zuletzt erschien „Die Ostdeutschen als Avantgarde“ (2002).

ANNETT GRÖSCHNER, Jahrgang 1964, ist Schriftstellerin. Zuletzt erschien „Ein Koffer aus Eselshaut“ (mit Peter Jung, 2004)

WOLFGANG KIL, Jahrgang 1948, ist Architekturkritiker. Zuletzt erschien „Luxus der Leere“ (2004)